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Warte, bis du schlaefst

Warte, bis du schlaefst

Titel: Warte, bis du schlaefst
Autoren: Mary Higgins Clark
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aus dem Gesicht geschnitten.
    Ich habe die rotbraunen Haare, die braunen Augen und das kräftige Kinn meines Vaters geerbt. Wenn meine Mutter Absätze trug, war sie sogar eine Spur größer als mein Vater, und genau wie er bin ich nur von durchschnittlichem Wuchs. Eine plötzliche Sehnsucht nach ihm überfiel mich, als ich jetzt auf meine Mutter zuging und ihr einen Arm um die Schultern legte.
    Sie wirbelte herum, und ich spürte geradezu körperlich den Zorn, der von ihr ausging. »Carolyn, wie konntest du nur so mit Mack reden?«, fuhr sie mich an, die Arme fest vor der Brust verschränkt. »Begreifst du denn nicht, dass es irgendein schreckliches Problem geben muss, das ihn davon abhält, zurückzukommen? Begreifst du nicht, dass er in irgendeiner hilflosen Lage sein muss und dass dieser Anruf eine einzige Bitte um Verständnis ist?«
    Als mein Vater noch lebte, hatte es oft ähnlich aufgewühlte Gespräche zwischen ihnen gegeben. Mom, die Mack
stets in Schutz nahm, mein Vater, der irgendwann so weit war, dass er die ganze Sache abhaken und aufhören wollte, sich Sorgen zu machen. »Herrgott noch mal, Liv«, konnte er sich dann ereifern, »schließlich klingt es ganz so, als ob es ihm gut geht. Vielleicht hat er sich mit irgendeiner Frau eingelassen, von der wir nichts wissen sollen. Vielleicht versucht er, Schauspieler zu werden. Das wollte er doch immer, als er noch ein Kind war. Womöglich war ich auch zu hart zu ihm, weil er immer diese Sommerjobs machen musste. Wer weiß das schon?«
    Es endete immer damit, dass sie einander um Verzeihung baten, Mom in Tränen aufgelöst, Dad zerknirscht und wütend auf sich, weil er sie in einen solchen Zustand versetzt hatte.
    Ich wollte nicht noch den zusätzlichen Fehler begehen und versuchen, mich zu rechtfertigen. Stattdessen sagte ich: »Hör zu, Mom. Da wir Mack bis heute nicht gefunden haben, wird ihn meine Drohung auch nicht besonders kümmern. Sieh es einmal so. Er hat sich bei dir gemeldet. Du weißt, dass er am Leben ist. Er klingt geradezu munter. Ich weiß, dass du Schlaftabletten hasst, aber ich weiß auch, dass dir dein Arzt welche verschrieben hat. Am besten nimmst du jetzt eine davon und versuchst, ein bisschen zu schlafen.«
    Ich wartete nicht auf eine Antwort. Es war besser, wenn ich nicht noch länger bei ihr blieb, denn auch ich spürte eine gehörige Portion Wut in mir. Wut auf sie, weil sie mich so beschimpft hatte, Wut auf Mack, Wut darüber, dass diese zweistöckige Zehnzimmerwohnung zu groß für Mom allein war, außerdem zu sehr angefüllt mit Erinnerungen. Sie will sie nicht verkaufen, weil sie sich nicht darauf verlassen will, dass Macks jährlicher Anruf an eine
neue Adresse weitergeleitet wird, und natürlich erinnert sie mich jedes Mal daran, dass er versprochen hatte, eines Tages würde er den Schlüssel ins Schloss stecken und wieder zu Hause sein … Zu Hause. Hier .
    Ich schlüpfte wieder in mein Bett, doch an Schlaf war zunächst nicht zu denken. Ich überlegte, wie ich die Suche nach Mack angehen sollte. Ich fasste den Gedanken ins Auge, Lucas Reeves aufzusuchen, den Privatdetektiv, den Dad engagiert hatte, verwarf ihn jedoch bald wieder. Ich wollte Macks Verschwinden so handhaben, als ob es erst gestern passiert sei. Als sich Dad damals ernsthafte Sorgen um Mack zu machen begann, hatte er als Erstes die Polizei angerufen und seinen Sohn als vermisst gemeldet. Ich nahm mir vor, ganz von vorn anzufangen.
    Ich kannte Leute, die in dem Gerichtsgebäude arbeiteten, in dem auch das Büro des Bezirksstaatsanwalts untergebracht war. Ich beschloss, meine Suche dort zu beginnen.
    Schließlich fand ich doch noch in den Schlaf und träumte, dass ich eine schattenhafte Gestalt verfolgte, die über eine Brücke lief. Obwohl ich mich bemühte, sie nicht außer Sichtweite geraten zu lassen, war sie zu schnell für mich, und als ich die andere Seite erreichte, wusste ich nicht, in welche Richtung ich mich wenden sollte. Doch dann hörte ich ihn rufen, seine Stimme klang bekümmert, fast klagend . Du sollst mich nicht verfolgen, Carolyn, bleib da, bleib da.
    »Ich kann nicht, Mack«, sagte ich laut und wachte auf. »Ich kann nicht.«

2
    Monsignore Devon MacKenzie pflegte Besuchern gegenüber die wehmütige Bemerkung fallen zu lassen, seine geliebte St.-Francis-de-Sales-Kirche befände sich so nahe bei der Kathedrale St. John the Devine, dass sie fast unsichtbar sei.
    Vor knapp zehn Jahren hatte er noch damit gerechnet, dass irgendwann der Beschluss
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