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Warte, bis du schlaefst

Warte, bis du schlaefst

Titel: Warte, bis du schlaefst
Autoren: Mary Higgins Clark
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legte und versuchte, ein bisschen zu schlafen. Ich vermute, dass ich tatsächlich in einen unruhigen Schlummer gesunken war, denn beim dröhnenden Aufjaulen des Telefons fuhr ich hoch und saß kerzengerade im Bett. Auf dem beleuchteten Zifferblatt sah ich, dass es fünf vor drei war. Mit einer Hand knipste ich die Nachttischlampe an, mit
der anderen griff ich nach dem Hörer. Mom hatte bereits abgehoben, und ich vernahm ihre Stimme, atemlos und angespannt: »Hallo, Mack.«
    »Hallo, Mom. Alles Gute zum Muttertag. Ich hab dich lieb.«
    Seine Stimme klang kraftvoll und zuversichtlich. Es hört sich so an, als ob er nicht die geringsten Sorgen hätte, dachte ich bitter.
    Wie immer, wenn sie seine Stimme vernahm, brach Mom in Tränen aus. »Mack, du fehlst mir so. Ich muss dich sehen«, flehte sie. »Es ist mir egal, in was für Schwierigkeiten du steckst, welche Probleme du hast, ich werde dir helfen, da rauszukommen. Mack, um Gottes willen, es sind jetzt zehn Jahre vergangen. Bitte tu mir das nicht noch länger an. Bitte … bitte …«
    Sein Anruf dauerte nie viel länger als eine Minute. Sicherlich war er sich bewusst, dass wir versuchen würden, den Ort, von dem er anrief, herauszufinden. Doch seitdem es diese Handys mit Prepaid-Karte gibt, benutzt er immer ein solches Gerät für seine Anrufe.
    Ich hatte mir im Voraus überlegt, was ich ihm sagen wollte, und schaltete mich jetzt hastig ein, bevor er auflegte. »Mack, ich werde dich finden«, sagte ich. »Die Polizei hat das nicht geschafft, und der Privatdetektiv auch nicht. Aber ich werde es schaffen, das schwöre ich dir.« Ich hatte das in ruhigem und bestimmtem Ton gesagt, doch das Schluchzen meiner Mutter brachte mich aus der Fassung. »Ich werde dich finden, du mieser Kerl«, platzte ich heraus, »und ich kann nur für dich hoffen, dass du einen guten Grund hast, uns so hundsgemein zu quälen.«
    Ich hörte ein Knacken und wusste, dass er die Leitung unterbrochen hatte. Ich hätte mir die Zunge abbeißen mögen,
um meine harschen Worte zurückzunehmen, doch natürlich war es dafür zu spät.
    Ich wusste, dass Mom wütend auf mich sein würde, weil ich Mack angeschrien hatte, dennoch streifte ich einen Morgenmantel über und ging den Flur hinunter zu der Zimmerflucht, die sie früher mit Dad geteilt hatte.
    Sutton Place ist eine gehobene Wohngegend in Manhattan, bestehend aus Stadthäusern und Wohngebäuden, die auf den East River hinausgehen. Mein Vater hat diese Wohnung gekauft, nachdem er in den Abendstunden ein Jurastudium an der Fordham Law School absolviert und sich anschließend bis zum Teilhaber einer Anwaltssozietät hochgearbeitet hatte. Unsere wohlbehütete Kindheit war das Ergebnis seines klugen Verstands und der strengen Arbeitsmoral, die ihm von seiner schottisch-irischen Mutter eingeimpft worden war. Niemals ließ er zu, dass auch nur ein Groschen des Geldes, das meine Mutter geerbt hatte, in unserem Leben eine Rolle spielte.
    Ich klopfte an die Tür und öffnete sie. Sie stand am Panoramafenster, von dem der Blick über den East River ging. Sie drehte sich nicht um, obwohl sie wusste, dass ich in der Tür stand. Es war eine klare Nacht, und auf der linken Seite sah ich die Lichter der Queensboro Bridge. Selbst zu dieser nachtschlafenden Zeit floss ein ununterbrochener Verkehrsstrom in beiden Richtungen über die Brücke. Kurz ging mir der merkwürdige Gedanke durch den Kopf, dass Mack in einem dieser Autos sitzen könnte und jetzt, nachdem er seinen jährlichen Anruf hinter sich gebracht hatte, zu irgendeinem entfernten Ziel unterwegs war.
    Mack hat schon immer gerne Reisen unternommen; es lag ihm im Blut. Der Vater meiner Mutter, Liam O’Connell, wurde in Dublin geboren, studierte am Trinity College und
wanderte in die Vereinigten Staaten aus, klug, gebildet, doch mittellos. Nach weniger als fünf Jahren war er so weit, dass er Kartoffeläcker auf Long Island kaufte, in dem Gebiet, das später zu den Hamptons wurde, dazu Grundstücke in Palm Beach County und an der Third Avenue, als diese noch eine schmutzige, dunkle Straße war, die im Schatten der darüber verlaufenden Hochbahntrasse lag. Damals warb er erfolgreich um meine Großmutter und heiratete sie, jenes englische Mädchen, das er am Trinity College kennengelernt hatte.
    Meine Mutter Olivia ist eine echte englische Schönheit, groß gewachsen, mit zweiundsechzig immer noch rank und schlank, mit silbergrauen Haaren, blaugrauen Augen und ebenmäßigen Gesichtszügen. Mack war ihr wie
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