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Waren Sie auch bei der Krönung?

Waren Sie auch bei der Krönung?

Titel: Waren Sie auch bei der Krönung?
Autoren: Paul Gallico
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Kind nach Zärtlichkeit dürstete. Violet Clagg war eine liebevolle und warmherzige, wenn auch immer müde und abgearbeitete Mutter. Es lag eher daran, daß sich in Gwendolines Bewußtsein die Vorstellung von einer lichten, ungemein schönen und strahlenden Über-Mutter geformt hatte.
    Es gelingt manchmal Zeichnern, die Kindergeschichten und Märchen illustrieren, bis zu dem Herzen eines Kindes vorzudringen und ihm ein Bild vorzuzaubern, das sich seinem Geist in der einen oder der andern Form für das ganze Leben einprägt. Ein solches Wesen war für Gwendoline die Schmetterlingsprinzessin geworden, ein blasses Mädchen, zart wie Altweibersommer, das in einem ihrer Bücher das Volk der Falter regierte. Wenn sie abends im Bett lag, pflegte Gwendoline vor dem Einschlafen dieses Phantasiegeschöpf zu besuchen.
    In der letzten Zeit hatte Gwenny eine neue Liebe entdeckt: die Königin. In all den Hunderten von Fotografien von ihr, die sie sah, war etwas — die zierliche Gestalt, das Lächeln, die stillen, ernsten Augen — , das ihr ans Herz rührte. Die Königin war Wirklichkeit. Sie lebte. Die Schmetterlingsprinzessin war nur eine farbige Zeichnung in einem Bilderbuch. In jenem magischen Vorgang, um den nur Kinder wissen, waren Märchenprinzessin und Königin zu einem einzigen Wesen verschmolzen, und Gwennys geheimstes Sehnen wandte sich ihm nun zu, so wie eine Blume, sich auf ihrem Stengel drehend, ihr Antlitz der Sonne zukehrt. Jetzt war sie auf dem Weg zu einem Rendezvous mit ihr.
    Das Kind hob das Gesicht von dem Büchlein und suchte sich aufs neue zu vergewissern, daß dem tatsächlich so war. Sie faßte ihre Mutter beim Arm. «Werde ich sie wirklich sehen? Wird sie mich auch sehen können?»
    Mit der aus langer Gewohnheit stammenden Interesselosigkeit und der automatischen Reaktion einer Mutter, die es gelernt hat, sich mit mehr als einem Kind abzugeben, antwortete Violet Clagg: «Ganz richtig, Liebling!», ohne ihre eigenen Gedankengänge zu unterbrechen, in deren Mittelpunkt sich gerade die Vision einer in eine weiße Serviette gehüllten Flasche Champagner befand, die von einem livrierten Diener serviert wurde. Sie sah sich selbst, wie sie, den kleinen Finger elegant gekrümmt, ein langstieliges Glas in der Hand hielt. Der gelbe Wein war im Begriff, aus der Flasche zu schäumen.
    «Aber wie nahe, Mami? Wie nahe wirklich?»
    Violet Clagg kämpfte gegen die Beharrlichkeit ihrer Tochter an, so wie sie sich immer gegen die Beharrlichkeit ihrer Mutter — Großmutter Bonner — wehrte, gegen die Beharrlichkeit ihres Gatten und gegen die noch harscheren Anforderungen des modernen Lebens, mit denen sie niemals fertig zu werden schien. Sie war eine unansehnliche, gutmütig dreinblickende, von allen ausgenutzte Frau.
    Filme und grellfarbige Inserate in Frauenzeitschriften hatten sie an die Schwelle des glanzvollen Luxuslebens herangeführt. Aber es war ihr noch nie vergönnt gewesen, diese Schwelle zu überschreiten, zumindest nicht bis zu dem Abenteuer, auf das sie sich nun eingelassen hatten. In ihrem Leben waren Erwartungen nur sehr selten erfüllt worden, und die Apathie der Enttäuschungen war daher tief in ihr verankert. Sie konnte es kaum glauben, daß es diesmal eine Ausnahme von der Regel geben würde. Aber saß sie nicht wirklich und leibhaftig in dem Zug nach London, um dort festliche Menschen und Fahnen und Musikkapellen und schöne Kleider, Juwelen und Diademe zu sehen und die gekrönte Königin von England — und um Champagner aus einem ganz besonderen Glas zu trinken?
    « Wie nahe, Mami?»
    Sie kapitulierte. «Nun ja, vielleicht fast so nahe wie deinen Vati. Du kannst ihr so zuwinken...» Sie faßte die Hand ihrer Tochter und machte eine unsichere Bewegung in der Richtung auf Will Clagg, ihren * Gatten. Dieser erklärte gerade einem ältlichen Textilwarenhändler aus Salford und dessen Frau, wie es ihm gelungen war, sich fünf Fenstersitze in Wellington Crescent in der Nähe von Hyde Park Corner zu verschaffen, wo man die Prozession am besten sehen würde. Denn der Krönungszug sollte, von Piccadilly kommend, in Wellington Place einbiegen und dann wieder eine Schwenkung durchführen, um durch den Park zu ziehen. Infolgedessen würde man an diesem besonderen Platz die Prozession tatsächlich zweimal sehen.
    «Mein Vetter Bert in London verschaffte mir die Karten», sagte er. «Wir dachten an Tribünensitze, aber er hat gute Verbindungen. Er, arbeitet für ein großes
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