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Wandlung

Wandlung

Titel: Wandlung
Autoren: A Baker
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zurück, als hätte sie auf eine Herdplatte gefasst. Sie blickte nach unten. Tief unten, verborgen vom Nebel, war das Meer. Sie konnte Wasser gegen die riesigen Schwimmauflager der Ölraffinerie rauschen hören. Wenn sie auf
das Geländer kletterte und sich nach vorn kippen ließe, wäre es im Nu vorbei, ein einhundert Meter tiefer Sturz durch weißen Dunst. Beim Aufprall würden ihre Knochen wie bei einem Sturz auf Beton zertrümmert. Augenblickliche Vernichtung, so als hätte man einen Ausschalter betätigt.
    Sie setzte einen Fuß auf das Geländer und zwang sich zu springen. Sie war jetzt weniger als eine Minute im Freien, zitterte aber, als hätte sie einen epileptischen Anfall. Ihr Blick trübte sich ein. Sie wollte springen, schaffte es aber nicht. Muskelstarre, zu große Angst vor dem Fall, zu große Angst vor den Schmerzen. Sie ging zurück nach drinnen, stellte sich im Flur unter eine Heizungsöffnung und verfluchte sich für ihre Feigheit. Zupfte eine gefrorene Träne von ihrer Wange und schaute zu, wie das winzige Juwel zwischen ihren Fingern schmolz.
    Plan B: sich in die Kabine zurückziehen und eine tödliche Überdosis Schmerztabletten schlucken.
    Seit zwei Monaten hatte Jane Schmerztabletten gesammelt. Jedes Mal, wenn sie Deo oder einen Kaugummi in der Kantine kaufte, steckte sie eine Packung Paracetamol ein. Die Tabletten befanden sich in einem Beutel unter ihrem Bett.
     
    Am Tresen in der Kantine blieb sie stehen, um einen Becher Eiscreme mitzunehmen. Die Stahltür des Kühlschranks verzerrte ihr Gesicht wie der Spiegel eines Gruselkabinetts.
     
    Wohntrakt Drei, endlose Gänge, verlassene Treppenschächte.
    Jedem Mannschaftsmitglied war eine kleine Zelle mit einem Bett und einem Stuhl darin zugeteilt worden. Sie
enthielt einen Kleiderspind, eine Nasszelle sowie eine Toilette aus Metall. Eine verkratzte Plexiglasluke erlaubte Jane einen Ausblick auf die Basaltklippen und die zerklüftete Steilküste von Franz-Joseph-Land, eine trostlose Mondlandschaft aus schneebestäubtem Vulkangestein. In ein paar Wochen würde die Sonne untergehen und die lange arktische Nacht beginnen.
    »Hallo, mein Schatz, bin wieder zurück.«
    Sie zog sich aus, setzte sich aufs Bett und drückte die Tabletten aus ihren Folienstreifen. Schichtete sie auf ihre Bettdecke, bis sie einen kleinen weißen Haufen bildeten, und drückte sie dann in einen Eiscremebecher. Gern hätte sie einen Abschiedsbrief geschrieben, doch fielen ihr nicht die rechten Worte ein.
    Sie klappte ihren Laptop auf. Sie wollte eine vertraute Stimme hören und rief eine alte Nachricht von zu Hause auf, eine kurze, von einer Webcam aufgenommene Szene. Janes Schwester, die in einem sonnendurchfluteten Zimmer saß. Jane klickte auf Abspielen .
    »Hi, Janey. Wie läuft’s denn da oben am Ende der Welt? Wollte einfach mal Hallo sagen und dir erzählen, wie stolz wir alle darauf sind, was du da tust. Kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie es da oben zugehen muss. Muss hart sein, sich um all diese Männer zu kümmern. Vielleicht erfreust du dich ja auch ein bisschen männlicher Aufmerksamkeit. Und musst sie dir mit einem Stuhl vom Leib halten. Mama lässt jedenfalls ausrichten, sie hat dich lieb …«
    Wäre sie zu Hause, könnte sie zum Telefon greifen und jemanden um Hilfe bitten. Doch der einzige Kontakt zum Festland war die Richtfunkverbindung im Büro des Anlagenmanagers, eine Standleitung mit einer unnatürlichen Verzögerung um etwa zwei Sekunden.

    Jane nahm einen Löffel Tabletten und Eiscreme und leckte den Löffel ab. Es schmeckte bitter, sie verzog das Gesicht. Sie schaufelte weiter Schmerztabletten in sich hinein, da sie nicht das Bewusstsein verlieren wollte, ehe sie genug davon intus hatte, um auf der Stelle zu sterben. Auf keinen Fall wollte sie wieder aufwachen. Ein einziges Mal in ihrem Leben wollte sie alles richtig machen.
    Eiscreme, ein süßer Gutenachtkuss. Auf diese Art aus dem Leben zu scheiden, hatte etwas Beschämtes, Zaghaftes. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, in diesen letzten Augenblicken etwas mit den zahllosen ewigen Verlierern gemein zu haben, die ihre Welt mit einem Glas Chablis und einem Magen voller Schmerztabletten auslöschten.
    Gerade wollte sie die dritte Portion Tabletten hinunterschlucken, als es an der Tür klopfte. Rasch klappte sie ihren Laptop zu. Erneutes Klopfen. Das konnte nur Punch sein, niemand sonst wusste, wo sie zu finden war.
    »Hallo? Reverend Blanc? Bist du da drinnen?«
    Jane verhielt sich so still
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