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Wallander 06 - Die fünfte Frau

Wallander 06 - Die fünfte Frau

Titel: Wallander 06 - Die fünfte Frau
Autoren: Henning Mankell
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Hotelpersonal hatte ihn mit Verwunderung, aber auch mit Respekt betrachtet. Sie hatten natürlich ihr Frühstück um sechs bekommen. Wallander hatte später in seinem italienischen Wörterbuch gesehen, daß
passaggio a livello
Eisenbahnübergang bedeutete. Er nahm an, daß sein Vater es mit etwas anderem verwechselt hatte, doch er ahnte nicht, womit, und war klug genug, nicht zu fragen.
    Wallander lauschte dem Regen. Die Reise nach Rom, eine einzige kurze Woche, in der Erinnerung ein endloses und überwältigendes Erlebnis. Sein Vater hatte nicht nur bestimmt, wann er sein Frühstück haben wollte. Er hatte auch selbstbewußt und wie selbstverständlich seinen Sohn durch die Stadt gelotst und gewußt, was er sehen wollte. Nichts blieb dem Zufall überlassen, und Wallander hatte erkannt, daß sein Vater diese Reise sein Leben lang geplant hatte. Es war eine Wallfahrt, eine Pilgerreise, an der er teilnehmen durfte. Er war ein Bestandteil der Reise des Vaters, ein unsichtbarer, aber ständig gegenwärtiger Diener. Die Reise hatte eine geheime Bedeutung, die er nie ganz verstehen würde. Sein Vater war nach Rom gereist, um etwas zu sehen, was er schon vorher im Geist erlebt zu haben schien.
    Am dritten Tag hatten sie die Sixtinische Kapelle besucht. Fast eine ganze Stunde lang stand sein Vater da und betrachtete das Deckenfresko von Michelangelo. Es war, als sähe man einen alten Menschen ein wortloses Gebet direkt zum Himmel senden. Wallander selbst hatte bald Nackenschmerzen bekommen und aufgegeben. Ihm war bewußt, daß er etwas außergewöhnlich Schönes betrachtete, daß aber sein Vater unendlich viel mehr sah. Einen Moment lang hatte er sich spöttisch gefragt, ob sein Vater auf dem gewaltigen Deckengemälde möglicherweise nach einem Auerhahn oder einem Sonnenuntergang suchte. Aber er schämte sich rasch dieses Gedankens. Es bestand kein Zweifel daran, daß sein Vater, so kitschig seine eigenen Bilder auch sein mochten, voller Andacht und Einfühlungsvermögen das Werk eines Meisters betrachtete.
    Wallander schlug die Augen auf. Der Regen trommelte.
    Am Abend des gleichen Tags, dem dritten ihrer gemeinsamen |33| römischen Zeitrechnung, hatte er das Gefühl, daß sein Vater etwas vorbereitete, was er als sein eigenes Geheimnis behalten wollte. Woher das Gefühl kam, wußte er nicht. Sie hatten in der Via Veneto zu Abend gegessen, viel zu teuer, fand Wallander, aber sein Vater bestand darauf, daß sie es sich leisten konnten. Sie waren auf ihrer ersten und letzten gemeinsamen Reise nach Rom. Es gehörte doch wohl dazu, anständig zu essen. Anschließend waren sie langsam durch die Stadt zum Hotel gewandert. Der Abend war lau, allenthalben waren sie von Menschen umgeben, und Wallanders Vater hatte von dem Deckengemälde in der Sixtinischen Kapelle gesprochen. Zweimal hatten sie sich verlaufen, bevor sie ins Hotel zurückkamen. Wallanders Vater wurde nach seinem Frühstücksaufruhr mit großem Respekt behandelt; sie hatten unter höflichen Verbeugungen ihre Schlüssel bekommen und waren die Treppe hinaufgestiegen. Im Flur sagten sie sich gute Nacht und schlossen die Türen. Wallander hatte sich aufs Bett gelegt und den Straßengeräuschen gelauscht. Vielleicht dachte er an Baiba, vielleicht schlief er nur allmählich ein.
    Plötzlich war er hellwach. Etwas machte ihn unruhig. Nach einer Weile zog er seinen Morgenmantel an und ging hinunter an die Rezeption. Alles war sehr still. Der Nachtportier saß vor einem leisegestellten kleinen Fernseher im Zimmer hinter der Rezeption. Wallander kaufte eine Flasche Mineralwasser. Der junge Mann an der Rezeption arbeitete nachts, um sein Theologiestudium zu finanzieren. Das hatte er schon erzählt, als Wallander zum erstenmal unten war, um Wasser zu kaufen. Er hatte dunkles welliges Haar, war in Padua geboren, hieß Mario und sprach ein ausgezeichnetes Englisch. Wallander stand mit der Wasserflasche in der Hand da, als er sich plötzlich zu dem jungen Nachtportier sagen hörte, er bitte darum, geweckt zu werden, falls sein Vater sich nachts an der Rezeption zeige und vielleicht auch das Hotel verlasse. Der junge Mann betrachtete ihn, vielleicht war er verwundert, vielleicht hatte er schon so viel Erfahrung, daß ihn keine nächtlichen Wünsche von Hotelgästen mehr in Erstaunen versetzen konnten. Er nickte und sagte, selbstverständlich, wenn der alte Herr Wallander während der Nacht das Hotel verlasse, werde er sogleich an der Tür von Zimmer 32 klopfen.
    |34| Es geschah in
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