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Wallander 06 - Die fünfte Frau

Wallander 06 - Die fünfte Frau

Titel: Wallander 06 - Die fünfte Frau
Autoren: Henning Mankell
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draußen auf dem Hof?
    Er verwarf den Gedanken. Er bildete sich nur etwas ein. Alt zu werden bedeutete neben vielem anderen, daß man ängstlich wurde. Die Türen hatten gute Schlösser. Im Schlafzimmer im oberen Stockwerk verwahrte er eine Schrotflinte, in einer Küchenschublade lag eine Pistole, leicht erreichbar. Wenn Eindringlinge zu seinem einsam gelegenen Hof etwas nördlich von Ystad kämen, könnte er sich verteidigen. Er würde auch nicht zögern, es zu tun.
    Er stand auf. Wieder fuhr ihm ein Schmerz durch den Rücken. |25| Der Schmerz kam und ging in Wellen. Er stellte die Kaffeetasse auf der Spüle ab und blickte auf seine Armbanduhr. Gleich elf. Es war Zeit hinauszugehen. Er blinzelte zum Thermometer vor dem Küchenfenster, es zeigte sieben Grad plus an. Der Luftdruck war steigend. Ein schwacher Wind aus Südwesten zog über Schonen. Alle Bedingungen waren ideal, dachte er. Heute nacht würden die Vogelschwärme nach Süden ziehen. Auf ihrem langen Weg würden sie zu Tausenden und aber Tausenden auf unsichtbaren Flügeln über ihn dahinziehen. Er würde sie nicht sehen können. Aber er würde sie spüren dort draußen im Dunkeln, hoch über sich. Seit mehr als fünfzig Jahren hatte er zahllose Herbstnächte im Freien verbracht, nur um das Gefühl zu erleben, daß die Nachtflieger dort irgendwo über ihm waren.
    Ein ganzer Himmel, der sich fortbewegt, hatte er oft gedacht. Ganze Sinfonieorchester von schweigenden Singvögeln, die vor dem herannahenden Winter aufbrachen und in wärmere Länder flogen. Tief in ihren Genen liegt der Trieb zum Aufbruch. Und ihre unübertroffene Fähigkeit, nach Sternen und Magnetfeldern zu navigieren, leitet sie immer richtig. Sie suchen die geeigneten Winde, sie haben ihr Fettlager aufgebaut, sie können sich Stunde um Stunde in der Luft halten.
    Ein ganzer Himmel, vibrierend von Flügeln, begibt sich auf seine jährlich wiederkehrende Pilgerfahrt. Den Vogelzug nach Mekka.
    Was ist ein Mensch gegen einen Zugvogel? Ein einsamer alter Mann, an die Erde gebunden? Und dort, hoch über ihm, ein ganzer Himmel, der sich auf den Weg macht?
    Er hatte oft gedacht, daß es wie eine heilige Handlung war. Seine eigene herbstliche Hochmesse, dort im Dunkeln zu stehen und zu spüren, wie die Zugvögel aufbrachen. Und, wenn der Frühling kam, war er da, um sie wieder zu empfangen.
    Die nächtlichen Vogelzüge waren seine Religion.
    Er ging in den Flur und blieb am Kleiderständer stehen. Dann ging er zurück ins Wohnzimmer und zog den Pullover über, der auf einem Schemel neben dem Schreibtisch lag.
    Alt zu werden bedeutete neben allen anderen Plagen, daß man auch schneller fror.
    |26| Noch einmal betrachtete er das Gedicht, das fertig auf dem Tisch lag. Das Klagelied über den Mittelspecht. Es war schließlich so geworden, wie er es sich vorgestellt hatte. Vielleicht würde er lange genug leben, um genügend Gedichte für eine zehnte und letzte Sammlung zusammenzubekommen? Einen Titel konnte er sich schon vorstellen:
    Nächtliche Hochmesse.
    Er ging wieder hinaus in den Flur, schlüpfte in die Jacke und zog sich eine Schirmmütze tief in die Stirn. Dann öffnete er die Haustür. Die Herbstluft war schwer vom Geruch nassen Lehms. Er schloß die Tür hinter sich und ließ seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen. Der Garten lag öde. In einiger Entfernung ahnte er den Widerschein der Lichter von Ystad. Im übrigen wohnte er so weit vom nächsten Nachbarn entfernt, daß ihn nur Dunkelheit umgab. Der Sternenhimmel war fast vollkommen klar. Ein paar vereinzelte Wolken waren am Horizont zu erkennen. Es war eine Nacht, in der die Vogelzüge über ihm dahinstreichen würden.
    Er begann zu gehen. Der Hof, auf dem er wohnte, war alt und bestand aus drei Flügeln. Der vierte war irgendwann am Anfang des Jahrhunderts abgebrannt. Er hatte viel Geld in die gründliche und noch ständig weitergehende Renovierung seines Hofes gesteckt. Wenn er starb, würde er alles dem Museum in Lund vermachen. Er war nie verheiratet gewesen, hatte keine Kinder. Er hatte Autos verkauft und war reich dabei geworden. Er hatte Hunde gehabt. Und dann hatte es die Vögel über seinem Kopf gegeben.
    Ich bereue nichts, dachte er, während er dem Pfad zum Turm hinab folgte, den er selbst gebaut hatte und wo er zu stehen pflegte und nach den Vögeln Ausschau hielt. Ich bereue nichts, weil es keinen Sinn hat zu bereuen.
    Es war eine schöne Septembernacht.
    Dennoch war da etwas, das ihn beunruhigte.
    Er blieb auf dem Pfad
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