Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Titel: Wahnsinn, der das Herz zerfrisst
Autoren: Tanja Kinkel
Vom Netzwerk:
erstarrte und wußte einen Augenblick lang nicht, ob sie ihn ohrfeigen oder auslachen sollte. In diesem Moment dämmerte ihr die Erkenntnis, daß Catherines Ausbrüche vielleicht nicht unprovoziert gewesen waren. »Gut«, erwiderte sie langsam,
    »Baby Byron.«
    »Gans!« Aber während er das sagte, zwinkerte er ihr zu, und sie konnte nicht anders, als ebenfalls ein Auge zuzukneifen und ihn mit übertrieben strengem Blick so lange strafend anzusehen, bis sie beide in schallendes Gelächter ausbrachen.
    Dennoch mußte er immer wieder seine kleinen Sticheleien anbringen. Als Lord Carlisle von einem Manöver berichtete, an dem Lieutenant Leigh teilgenommen hatte, entfuhr Augusta ein überraschter Ausruf. Darauf blickte ihr Bruder sie von der Seite an und bemerkte mit hochgezogenen Augenbrauen, Vetter George sei wohl nicht sehr schreibfreudig. Das traf sie. Seit über einem Monat hatte George Leigh nichts mehr von sich hören lassen!
    Die Leighs gehörten zu den wenigen Verwandten der Byronschen Familie, die Augusta in ihrer Kindheit kennengelernt hatte, und obwohl man sie eigentlich überall recht freundlich aufnahm, schien ihr doch George der erste zu sein, der nicht diese Seien-wir-nett-zu-Augusta-sie-kann-ja-nichts-dafür Haltung an den Tag legte.
    Bei ihm spürte sie Achtung und Freundlichkeit, und ein- oder zweimal, als sie mit ihm ausritt, hatte sie sogar Bewunderung in seinen Augen aufblitzen sehen. George Leigh war darüber hinaus eine ins Auge fallende Erscheinung, deren Charme man sich nur schwer entziehen konnte. Und so hatte Augusta sich an dem Tag, als er mit ihr ihren ersten Ball eröffnete, unsterblich in ihn verliebt. Eigentlich hatte sie gedacht, er würde sie nie bemerken, doch gerade auf diesem Ball hatte er ihr zugeflüstert:
    »Ich glaube wahrhaftig, du wirst erwachsen, Augusta.«
    Damit hatte eine wunderbare Romanze begonnen. die nur durch die ärgerliche Tatsache gestört wurde, daß Georges Vater General Leigh, der seinem Sohn ein Offizierspatent gekauft hatte, darauf bestand, daß dieser sich auch längere Zeit bei der Armee sehen ließ. Und nun hatte George lange nichts mehr von sich hören lassen, was Augusta zu allen möglichen Befürchtungen Anlaß gab - Ängste, die ihr Bruder durch seine gemeinen Bemerkungen wieder wachrief und schamlos ausnutzte.
    Sie sprang auf und rannte in ihr Zimmer, zutiefst gekränkt und beleidigt. Was hatte ihr dieser hinterhältige Stichler von Bruder noch in seinen Briefen versichert? Sie sei »die nächste Verwandte, die ich in der Welt habe, sowohl durch Blutsbande als auch durch Liebe« - ha! Alle Männer waren Egoisten, und die beiden Georges am allermeisten!
    Da lag sie nun auf ihrem Bett, das Gesicht in ihr Kissen vergraben, einsam und allein, und wiegte sich in Selbstmitleid. Plötzlich hörte sie jemanden sagen: »Augusta? Aber Gänschen, warum weinst du denn?« Sie blickte auf und warf ihm ein Kissen in das Gesicht. Diese unvermutete, aber heftige Attacke ließ ihn stolpern, und unversehens sah sich Byron völlig unbeabsichtigt vor seiner Schwester auf den Knien liegen. So blieb ihm nichts, als sich die Lage zunutze zu machen, indem er sie aus dieser Position beschwor, ihm zu verzeihen.
    Augusta fand die ganze Angelegenheit auf einmal übertrieben lächerlich. »Steh auf«, sagte sie, »es sei dir vergeben.« (Diesen Satz hatte sie aus einem jüngst populär gewordenen Ritterroman.) »Oh dear, wenn wir uns das nächste Mal treffen, bring mir lieber gleich einen ganzen Vorrat Taschentücher mit - du Schuft!« Dann entdeckte sie zu ihrer Überraschung, daß er ein überaus reizendes, verwirrendes Lächeln besaß, das in seinen dunklen Augen kleine Funken tanzen ließ.
    Diese erste Begegnung der beiden Kinder des tollen Jack sollte bis auf weiteres auch die einzige bleiben. Mrs. Catherine Byron hatte den längeren Arm, und sie sorgte dafür, daß ihr Sohn seine nächsten Ferien mit ihr verbrachte. Leider jedoch nicht auf Newstead Abbey, denn Catherine hatte sich schweren Herzens entschlossen, den Byronschen Stammsitz an Lord Grey de Ruthyn, einen dreiundzwanzigjährigen Junggesellen, zu vermieten.
    Ruinierte Güter finanzierten sich nicht von selbst, und Lord Grey zahlte immer pünktlich seine Miete, wenn er auch sonst nur durch seine Jagd auf Fasane und Dorfmädchen von sich reden machte. Catherine hatte in der Nähe einen wesentlich bescheideren Gutshof als Domizil gewählt, so daß ihr Sohn die Gelegenheit bekam, täglich nach Newstead Abbey
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher