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Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Titel: Wahnsinn, der das Herz zerfrisst
Autoren: Tanja Kinkel
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Trophäen an den Wänden und elegant gedrechselten Möbeln aus Frankreich.
    Auf einer Chaiselongue in der Nähe des Kaminfeuers, das ein Diener eifrig schürte, saß eine Dame, die offensichtlich Lady Carlisle sein mußte. Sie hätte seiner Mutter nicht weniger ähneln können! Lady Carlisle trug ein zartes Musselinkleid; denn seit bekannt geworden war, daß der Erste Konsul der Franzosen, Napoleon Bonaparte, Musselin verabscheute, hatte das Material in England eine ungeahnte Beliebtheit erlangt. Ihre schlanke Gestalt und das blasse glatte Gesicht ließen keine Schlüsse auf ihr Alter zu. Um die Chaiselongue hatte sich eine Schar rotblonder Mädchen gereiht, die die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter nicht verheimlichen konnten.
    Lord Carlisle wollte wohl dafür sorgen, daß die Familie nicht ausstirbt, schloß Byron mit dem leichten Zynismus, den er sich in Harrow angeeignet hatte. Ihm fiel plötzlich mit Entsetzen ein, daß er überhaupt nicht wußte, wie Augusta aussah, daß sie sehr wohl eines dieser Mädchen sein konnte.
    Sie musterten ihn alle erwartungsvoll, und obwohl er sich so lange auf diesen Besuch gefreut hatte, wünschte er sich plötzlich, weit fort zu sein. Nur nicht hier unter diesen überlegenen, gesellschaftsgewandten Fremden, die im nächsten Moment schon seinen Gang bemerken würden.
    Etwas abseits stand Lord Carlisle mit zwei jungen Männern und einem weiteren Mädchen.
    Byron spürte, wie Hanson ihm die Hand auf die Schulter legte.
    »Nun gehen Sie und begrüßen Sie Ihren Vormund und Ihre Schwester, Mylord«, sagte der Anwalt freundlich. Byron schluckte, gab sich einen Ruck und ging auf die kleine Gruppe zu.
    Augusta war etwa so groß wie er, für ein Mädchen hochgewachsen und ein wenig dünn. Ihr Haar, etwas heller als seine eigenen, fiel in kastanienbraunen Locken auf ihre Schultern.
    Der Blick in ihr Gesicht ließ ihn fast erschrecken, als er erkannte, wie sehr sie sich glichen.
    Sie besaßen beide die vollkommene klassische Nase, die hohe Stirn und den etwas zu großzügigen Mund der Byrons. Nur ihre leicht schräggestellten Augen und die Grübchen, die schon beim leisesten Lächeln hervorkamen, ließen sie ausgesprochen weiblich wirken. Byron wollte sie umarmen, brachte es dann aber vor all diesen Fremden doch nicht fertig, streckte ihr die Hand entgegen und sagte leise: »Augusta.«
    Augusta fiel als erstes der Klang seiner Stimme auf, ein melodiöser Bariton, der nichts mehr von einem Stimmbruch verriet.
    Er kam ihr viel älter vor, als sie erwartet hatte, und sie spürte jäh Enttäuschung in sich aufkommen, weil sie ihn nie als Kind erleben würde, wie sie ihre Vettern erlebt hatte, weil man ihnen die gemeinsame Kindheit weggenommen hatte und es jetzt vielleicht zu spät war. Sie hatte bemerkt, mit welchem Gesichtsausdruck er die Howards gemustert hatte. Was, wenn er sie als genauso fremdartig empfand?
    »Georgy«, sagte sie, denn so hatte sie ihn als Kind genannt, vor dem Tod ihres Vaters.
    Aber irgendwie schien es falsch zu klingen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern - wie sollte er auch, er war viel zu jung gewesen.
    Sie fragte sich, ob er wohl jetzt auch an ihren Vater dachte, den unbekannten Vater, über den man nicht sprach. Das geheimnisvolle Schweigen hatte sie zu den abenteuerlichsten Vorstellungen angeregt - ein Pirat, ein Ritter, der ausgezogen war, um Gefahren zu bestehen - , bis sie alt genug war, um von gelegentlichen Bemerkungen Lord Carlisles oder anderer Verwandter wie
    »Jack war liebenswert in seiner Verrücktheit, aber vollkommen verantwortungslos, es war ihm gleich, wer unter seinen Extravaganzen litt« ernüchtert zu werden.
    Sie zögerte noch einen winzigen Augenblick, dann trat sie vor und umarmte ihren Bruder. Die Schultern unter ihren Händen spannten sich kurz, doch er erwiderte ihre Umarmung mit einer unerwarteten Heftigkeit.
    An der gespielt selbstsicheren Art, mit der Byron daraufhin Lord Carlisle begrüßte, erkannte sie ihre eigene Schüchternheit und hatte sofort das Gefühl, ihn bemuttern zu müssen.
    Dieses Bedürfnis verging ihr jedoch spätestens beim Dessert, als sie von ihrem angebeteten Vetter George Leigh erzählte und Byron das Medaillon mit dem Porträt dieses Cousins zeigte, das sie immer bei sich trug. Ihr Bruder wartete einige Augenblicke und murmelte dann, die Augen auf die Tischdecke geheftet:
    »Übrigens möchte ich dich bitten, mich nicht mehr Georgy zu nennen. Sag Byron - es gibt schon zu viele Georges in der Verwandtschaft!«
    Sie
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