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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier
Autoren: Graham Swift
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umgekehrter Richtung wirken konnte. Und mehr die Tatsache, dass seine Mutter ihn zur Welt gebracht hatte, und weniger die, dass sie den Namen seines Vaters angenommen hatte, aus ihr eine Luxton gemacht hatte. Bei seiner Geburt war es ihr, mutmaßte Jack, so schlecht ergangen, dass sie nach allgemeiner Einschätzung kein zweites Mal Mutter werden konnte. Alles richtete sich also auf ihn. Oder, anders betrachtet, er war an allem schuld. Acht lange Jahre hatten das bewiesen. Dann war Tom zur Welt gekommen und hatte die Schuld von ihm genommen. Ein weiterer Grund, warum es Jacknie schwer gefallen war, so unvorbereitet einen kleinen Bruder zu haben. Ganz im Gegenteil.
    Jedenfalls gab es diese Gespräche. Und außerdem war Vera, als sie sterbend in dem großen Bett lag, so sehr eine Luxton geworden, dass sie sich trotz aller Bemühungen der konsultierten Ärzte weigerte, von der Jebb Farm weggebracht zu werden. Als wollte sie endgültig Wurzeln schlagen.
    Er hatte eine klare Erinnerung   – obwohl er sich um Vergessen bemüht hatte   – an ihre letzten Tage. Wie sie sich, manchmal buchstäblich, an das Bett geklammert hatte, als wollte sie eins mit ihm werden. Oder als wollte das Bett sie werden. Sein Vater, vielleicht um diesen intimen Vorgang nicht zu stören, schlief ganz in der Nähe   – oder hielt vielmehr angsterfüllt Wache   – in einer Art Biwak, das er sich aus der alten Truhe und dem ramponierten Sessel, dem einzigen im Zimmer, gebaut hatte. Das Zimmer war wie eine Katastrophenabteilung.
     
    Wenigstens war ihr, so konnte Jack sich jetzt sagen, der lange Weg in den Ruin und Schlimmeres erspart geblieben. Obwohl es eigentlich nicht lange nach ihrem Tod anfing. Wie sehr hätte es sie empört und beschämt und schlichtweg enttäuscht! Wie musste sie sich immer wieder in ihrem Grab auf dem Friedhof von Marleston umgedreht haben! Aber hätte sie sich umdrehen können   – manchmal verhedderte Jack sich in der Logik seiner Gedanken   –, dann wäre ihr all das eben doch nicht erspart geblieben.
    Er kann zu keiner Entscheidung kommen. Zwar ist seine Mutter tot, aber rein theoretisch hat es keinenMoment gegeben, da sie nicht an seiner Seite stand. Er möchte, dass sie nichts von alledem, was nach ihrem Tod kam, wissen und erleiden oder auch nur miterleben musste. Das hier mit eingeschlossen. Aber dann müsste er sie sich tot wünschen. Tot im eigentlichen Sinne.
    Erst gestern hatte Jack am Grab seiner Mutter stehen müssen. Hatte sie das gespürt? Wie hätte sie es aushalten können, wenn sie es gewusst hätte, unter den Umständen? Aber wenn sie es gespürt hätte, dann hätte sie ihm doch sicherlich ein Zeichen gegeben, und er hätte ein Zupfen bemerkt   – ein bisschen wie das Zerren der leeren Wohnwagen da unten   –, und sie hätte doch sicherlich gerufen, irgendwie, als er plötzlich in unkontrollierter Eile weggelaufen war: »Geh nicht, Jack. Lauf doch nicht einfach weg.« Und wenn sie es getan hätte, dann wäre er doch bestimmt geblieben.
    Sie waren
alle
zusammen da gewesen, in diesen wenigen, schrecklichen Minuten, alle unter den gleichen bedrückenden Umständen, aber er war der Einzige, der noch über der Erde war.
    Und jetzt waren auch alle (außer ihm) dort, denkt er, jetzt, in diesem Moment, bei Wind und Regen. Der Wind, der die braun gefärbten Blätter von den Blumen zerrte, der die aufgeschichteten Sträuße und Kränze in Kürze auseinanderriss, der Regen, der die Grabsteine abwusch, alte wie neue, während das Wasser in der Erde versickerte.
    Jack kann es nicht entscheiden. Spüren sie es alle, wissen sie es oder bleibt es ihnen erspart? Er könnte sagen, dass er im Begriff ist, es herauszufinden.

4
    Und was würde seine Mutter denken (aber er will darüber nicht nachdenken), wenn sie ihn jetzt sehen könnte?
     
    Und überhaupt, was hätte sie gedacht, wenn sie ihn nicht mehr auf der Jebb Farm, sondern hier, am Meer, gesehen hätte, wo er eine Herde Wohnwagen hütete? Was würde sie denken, wenn sie ihn in einem Gespann   – ernsthaft und offiziell verheiratet   – mit Ellie Merrick sehen könnte? Das früher Unmögliche und dennoch Unvermeidbare   – wer sonst hätte es sein sollen?   – hätte auch sie sich doch bestimmt gewünscht. Wenn sie nur die Macht gehabt hätte, zwei störrischen Männern die Köpfe zurechtzusetzen und es selbst in die Wege zu leiten.
    Dabei hatte es nicht in der Kirche von Marleston stattgefunden. Keine Hochzeitsglocken, die sie zwei Meter unter
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