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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier
Autoren: Graham Swift
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Ellie kann sich mit zusammengekniffenen Augen nur einbilden, dass sie an einer bestimmten Stelle durch den Regenschleier jenseitsder Windschutzscheibe die erleuchteten Fenster des Cottage wie Nagelköpfe schimmern sieht.
    Die Scheibenwischer gehen hin und her, ohne große Wirkung. Gut fünfundzwanzig Meter vor ihr in der Haltebucht steht ein anderes Auto, ein silbergrauer Kombi, dessen Fahrer das tut, was Ellie, dem Anschein nach, auch tut   – abwarten, bis das Unwetter nachlässt   –, und neben dem spontanen Solidaritätsgefühl verspürt Ellie einen Stich des Neids.
Nur
das Unwetter abwarten.
    Wie konnte Jack sagen, was er gesagt hat?
    Ellie hat ihre Mutter seit zwanzig Jahren nicht gesehen   – und wird sie auch nie wieder sehen   –, sodass der Gedanke an sie wie ein fernes Aufglimmen durch Verschwommenes ist. Aber in genau diesem Moment, als hätte die Zeit eine erstaunliche, sie einfangende Schlaufe gezogen, sind die Gedanken an ihre Mutter   – und auch an ihren Vater   – so wirklich wie nie zuvor.
    Wie konnte Jack das sagen?
     
    Ellies Mutter war eines Tages, an einem schönen Tag Ende September, von der Westcott Farm in Devon verschwunden und hatte Jimmy, ihren Mann, sowie Ellie, ihr einziges Kind, zurückgelassen, als Ellie knapp sechzehn war, und obwohl sie ihre Tochter nie wiedersehen würde, sollte Ellie letztendlich   – ganz direkt und voller Dankbarkeit   – erfahren, wo ihre Mutter ein neues Zuhause gefunden hatte. Denn Ellies Mutter hatte in eben dem Cottage gelebt, dessen Lichter Ellie nur in ihrer Einbildung sehen kann, und wäre das nicht der Fall gewesen, hätten Ellie und Jack es niemals zu ihrem Zuhause machen können.
    Obwohl Ellie gerade jetzt ihre Zweifel hat, ob es wirklich ein Zuhause ist.
    Den genauen Grund für die plötzliche Flucht ihrer Mutter vor all den Jahren sollte Ellie nie erfahren, aber es hatte mit einer Person zu tun, die Ellie damals, in sehr intimen Gesprächen mit Jack Luxton, den »geheimnisvollen Mann« ihrer Mutter nannte   – einen Ausdruck, den sie weniger mit Spott als ironisch fasziniert benutzte, als hätte sie selbst auch gern einen geheimnisvollen Mann.
    Ihr Vater musste eine genauere Vorstellung von diesem Mann gehabt haben und auch mittelbar mit seiner weggelaufenen Frau über das Thema in Kontakt gewesen sein, wenn auch nur mit dem Ergebnis, dass er regulär von ihr geschieden wurde und ab da wieder alleiniger Besitzer der Westcott Farm war. Aber kein Wort kam ihm dazu über die Lippen, und ohnehin hatte ihre Mutter, wie Ellie kurz vor dem Tod ihres Vaters in Erfahrung brachte, den ursprünglichen geheimnisvollen Mann gegen einen anderen ausgetauscht und mit ihm auf der Isle of Wight gelebt.
    Ein paar Meilen auf der Küstenstraße in die andere Richtung lag Ellies Mutter   – genauer, ihre Asche   – auf einem Friedhof in Shanklin, unter einer Grabplatte, die ihr damaliger Mann, für Ellie eines Tages »Onkel Tony«, dort hatte niederlegen lassen. Inzwischen lebte Ellie schon länger als zehn Jahre in dem Haus, in dem ihre Mutter und Onkel Tony gewohnt hatten, aber die Ruhestätte ihrer Mutter hat sie in all der Zeit nicht aufgesucht, und bis vor kurzem wäre das lediglich Ausdruck der eigenen gemischten Gefühle gegenüber ihrer abtrünnigenMutter gewesen: Schuldzuweisungen, abgemildert durch unerwartete Dankbarkeit sowie   – seit jenem Septembertag vor vielen Jahren   – eine merkwürdige und widerstrebende Bewunderung. Sie hatte ihre Mutter nicht rundheraus verdammt, aber sie hatte ihr auch nicht rundum verziehen, und auf keinen Fall würde sie ihr Grab aufsuchen.
    Bis vor kurzem hätte das lediglich Ellies allgemeinen Standpunkt dargestellt. Die Vergangenheit ist vergangen, und die Toten sind tot.
    Aber vor zwei Tagen, als Jack morgens allein zu einer außergewöhnlichen Reise aufgebrochen war, deren endgültiges Ziel ein Grab war, hatte Ellie gespürt, wie in ihr, als wäre es ein komplementärer Akt, der plötzliche Wunsch aufkam, ihrer Mutter die lang verweigerte Ehre zu erweisen. Sie hatte sogar den Gedanken gehabt: wie Jack für seinen Bruder, so ich für meine Mum. Schwierig war daran nur, dass sie das Auto nicht hatte   – Jack war damit unterwegs   –, und die Vorstellung, mit dem Bus zu fahren, widerstrebte ihr. Aber jetzt hatte sie das Auto   – hatte es »requiriert«   –, und innerhalb der letzten verzweifelten Stunde hat Ellie abermals die einst abgebrochene Reise begonnen. Und sie wieder
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