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Wände leben - Samhain - Ferner Donner

Wände leben - Samhain - Ferner Donner

Titel: Wände leben - Samhain - Ferner Donner
Autoren: Martin Clauß
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zurückgesetzt von der Straße.
    Das wuchtige Bauwerk aus dem 18. Jahrhundert hätte eine Renovierung nötig gehabt – Wind, Wetter und Taubenkot hatten sichtbare Schäden an dem Gemäuer hinterlassen, die Wand war fleckig, die Simse bröckelten, und kleine, blinde Rundfenster verliehen dem Gebäude etwas Verstohlenes. Ein lieblos hingekritzeltes Graffiti verkündete, dass man Geld nicht essen könne. Bis auf einen grauen Lieferwagen war der Parkplatz leer.
    Der Motor des Ferraris erstarb.
    Eine Viertelstunde lang blieb der Wagen dort. Als ein älterer Passant interessiert ins Innere sah, hatte dieses das gewöhnliche Aussehen fast vollständig wiedererlangt. Nur die feucht glänzende Oberflächenstruktur bestand noch, doch die fiel dem Mann nicht auf. Nachdem er seine Neugier befriedigt hatte, ging er weiter, und wenig später startete der Motor erneut, der führerlose Ferrari stieß zurück, rollte langsam aus dem Parkplatz hinaus, fuhr um das Schulgebäude herum und fand den Eingang zum unterirdischen Parkhaus. Es gab keine Schranken, und so rollte das Auto in das vollkommen leere unterirdische Reich, ungesehen und unbehelligt.
    Dort blieb es eine weitere Viertelstunde, ehe es plötzlich mit aufkreischenden Reifen wendete, die Ausfahrt nach oben schoss und in rasender Fahrt die Stadt verließ. Von der Landstraße bog es in einen Feldweg, fuhr in ein dichtes Waldstück ein. An einer blickgeschützten Stelle, an der sich schwere Äste über es ausbreiteten, verharrte es.
    Es stand keine zehn Minuten dort, als sich die Umgebung zu verändern begann. Aus dem mit Laub bedeckten Waldboden erhoben sich Pflanzen.
    Zunächst knarrte es tief im Boden, als breiteten sich dort Wurzeln aus, oder als würden Schoten oder Samenkapseln aufbrechen. Es raschelte, und die Blätterschicht wurde von grünen Stängeln durchstoßen. Gräser und junge Bäume sprossen gemeinsam in die Höhe und wuchsen neben dem Wagen empor. Aus der Ferne kam Efeu herbeigekrochen und kletterte über die Reifen und die Karosserie, schob sich über die Seitenfenster und legte sich auf das Dach.
    Die dem Auto zugewandten Seiten der alten Bäume wurden grün. Die Flechten, die bisher grau und unansehnlich auf der Rinde gewachsen waren, schienen von frischem Leben durchströmt zu werden. Neue Bäume stachen binnen weniger Stunden in den Himmel und drängten die alten zur Seite. Eine Schar von Blumen erblühte rings um den Wagen, und bald gab es keinen Quadratzentimeter Waldboden mehr, der nicht von neuem Leben beansprucht wurde.
    Es dauerte etwa einen Tag, bis von dem Auto nur noch die grobe Form zu erkennen war. Der Wagen lag verborgen unter einer grünenden, blühenden Schicht pflanzlichen Lebens. Doch nicht nur die Pflanzen gediehen prächtig. Auch die Zahl der Insekten und Kleintiere nahm zu. Der Boden wimmelte von Regenwürmern, Käfern und Spinnen, und ein zehn Meter entfernter Ameisenbau erreichte innerhalb weniger Tage seine doppelte Größe.
    In den folgenden Wochen verirrte sich nur einmal ein Spaziergänger in diese Gegend. Er betrachtete sich diesen Ort des sprießenden Lebens, doch als er gewahr wurde, dass Tausende von Ameisen über den Boden zu seinen Füßen schwärmten, ergriff er die Flucht.
    Im Inneren des Wagens herrschte nun Dunkelheit, doch das Leben darin war nicht erstorben. Leise pulsierend bewegten sich die Armaturen, und nicht nur sie. Das Auto hatte sich in ein Geflecht von Sehnen, Nerven und Blutgefäßen verwandelt. Doch die Veränderungen nahmen kein Ende. Was eben noch eine fleischähnliche, organische Masse war, verwandelte sich wenig später zurück in totes Metall, und umgekehrt. Lebendiges und Totes waren einem ständigen Wechsel ausgesetzt, gingen immer wieder ineinander über, als sei dies die natürlichste Sache der Welt.
    Aus einigen Steinen auf dem Waldboden brachen Pflanzen hervor, und wenn sie zurück auf die Erde fielen, verwandelten sie sich wieder in Stein.
    Alles schien möglich, doch nur im Umkreis von einigen Metern rund um den silbernen Sportwagen.
    Der Ferrari wartete.
    Wartete darauf, dass die Sommerferien endeten und die Schule wieder anfing.

3
    Das Schulgebäude war innen mit kleinen, gelben, selbstklebenden Notizzetteln übersät. Sie hingen überall, an den Türen, Schränken, an elektrischen Geräten, Lichtschaltern oder Heizkörpern. Besonders das Erdgeschoss war voll von ihnen.
    Es war Thorsten Schindlers Art zu arbeiten. In einem ersten, super-peniblen Kontrollgang konstatierte er, wo es etwas zu
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