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Wände leben - Samhain - Ferner Donner

Wände leben - Samhain - Ferner Donner

Titel: Wände leben - Samhain - Ferner Donner
Autoren: Martin Clauß
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tun gab, wuselte herum, sondierte Quadratmeter für Quadratmeter wie ein Detektiv auf der Spurensuche. Er war flink und aufmerksam – nichts entging den Augen hinter den kleinen, dicken Gläsern seiner runden Drahtbrille. Dann, wenn er ganz durch war und Dutzende seiner Klebezettel verteilt hatte, schaltete er einen Gang herunter. Zündete sich ein Zigarettchen an. Streckte sich. Gähnte ausgiebig. Und begann entspannt und ohne Eile mit den eigentlichen Reparaturarbeiten.
    Während andere in Urlaub fuhren, genoss er es, in dem Haus allein zu sein und seiner Arbeit nachgehen zu können, ohne vom Schulleiter oder anderen herumkommandiert zu werden. Er war gerne Hausmeister, aber am liebsten war er es, wenn er und das Gebäude sich unmittelbar gegenüberstanden, von Mann zu Mann sozusagen. Wenn sie stumm miteinander kommunizieren konnten.
    Während des Schuljahrs blieb nur Zeit für die dringendsten Arbeiten. Viele wichtige Reparaturen hatte er zurückstellen müssen, und jetzt war die Gelegenheit, sich ihnen zu widmen. Es war eine Art Kur für das Haus. Es ruhte sich aus und genoss es, von Thorsten Schindler verwöhnt zu werden, wie eine reife Dame auf einer Schönheitsfarm.
    Noch drei Wochen waren es bis zum Beginn des neuen Schuljahrs. Vieles hatte er schon erledigt, anderes würde noch folgen. Heute hatte er sich die Beleuchtung im Erdgeschoss vorgenommen. Zunächst hatte er Leuchtstoffröhren und Glühbirnen ausgewechselt, Lampenfassungen repariert und sich dann zwei defekten Steckdosen gewidmet. Am längsten hielt ihn die Reparatur eines Tageslichtprojektors auf. Er hatte die Einzelteile des Geräts in einem der Klassenzimmer auf mehrere Tische verteilt, bis es aussah, als hätte er ein Space Shuttle demontiert.
    Etwa um diese Zeit bemerkte er etwas Ungewöhnliches.
    Eine Topfpflanze, die auf dem hintersten Fensterbrett vergessen worden war, machte Geräusche.
    Thorsten hob den Kopf und dachte an ein Insekt, das sich in der ausgetrockneten Blumenerde verkrochen hatte. Die Pflanze selbst war ein gelbbraunes, verkrümmtes Etwas, das gewiss seit Ferienbeginn nicht mehr gegossen worden war und keinen Funken Leben mehr in sich trug.
    Dachte er.
    Wie er sich getäuscht hatte! Was eben noch die ausgetrockneten Überreste einer Pflanze gewesen waren, füllte sich nun mit frischem Grün und neuer Spannkraft. Das Gewächs richtete sich auf, drehte sich ein wenig, klappte mit einem unbeschreiblichen, krächzenden Geräusch zwei Blüten auf und wandte sie dem Licht zu. Dann verharrte die Pflanze und gab Thorsten genügend Zeit, sich ihr staunend zu nähern. Gerade, als der Vierzigjährige mit der kleinen Brille sie erreichte, quoll ein Gespinst aus haarfeinen Wurzeln aus dem Boden über den Rand des Topfes und ergoss sich einem Wasserfall gleich auf das Fensterbrett.
    Der Mann sah sich um.
    „Versteckte Kamera“, murmelte er. Unsicher hob er die Hand, winkte in das leere Zimmer hinein.
    Durch die nach außen strömenden Wurzeln hatte der Topf, der schräg auf dem Untersetzer stand, Übergewicht bekommen, kippte nun um und rollte vom Fensterbrett herab. Mit einem leisen Geräusch kam der dünne Kunststofftopf auf dem Teppichboden auf. Die krümelige Erde verteilte sich und erreichte sogar Thorstens Schuhe. Der Hausmeister machte einen Satz zurück.
    Er starrte auf die Pflanze und erwartete beinahe, dass sie über den Boden zu kriechen begann wie eine Art fantastischer Kröte. Natürlich tat sie das nicht. Aber sie wuchs weiter, reckte sich. Woher nahm sie ihre Energie? Sie hatte kein Wasser.
    Er wusste nicht, was ihn dazu trieb, an eines der anderen Fenster zu gehen und nach draußen zu sehen. Vermutlich suchte er die Ü-Wagen des Fernsehens. Doch auf dem großen Parkplatz vor der Schule gab es nur zwei Fahrzeuge. Der graue Lieferwagen gehörte ihm selbst. Drei Parkplätze weiter stand ein silberner Luxusschlitten, der in der Sonne strahlte. Ein Ferrari.
    Thorsten Schindler beobachtete, wie sich der Wagen plötzlich in Bewegung setzte. Die Frontscheibe reflektierte das Licht so sehr, dass er keinen Fahrer im Inneren erkennen konnte. Das Auto stieß zurück und schien um das Gebäude herumfahren zu wollen.
    Der Hausmeister riss sich von dem Blick aus dem Fenster los und sah nach der Pflanze. Sie hatte sich nicht vor den Stelle bewegt. Das Wachstum war zum Stillstand gekommen, und jetzt wurde er Zeuge, wie der grüne Stängel sich braun verfärbte, wie sich die Blüten schlossen und die feinen Wurzeln verdorrten. Als er das
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