Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wände leben - Samhain - Ferner Donner

Wände leben - Samhain - Ferner Donner

Titel: Wände leben - Samhain - Ferner Donner
Autoren: Martin Clauß
Vom Netzwerk:
Stein aufgesogen. Die Decke war wieder eine Decke.
    Doch fünfzehn Schüler hatten das Unglaubliche beobachtet.
    Einige von ihnen sprangen auf. Sie redeten durcheinander, beachteten den Lehrer nicht einmal, der jetzt überrascht sein Lied unterbrach und die Gitarre auf seine Knie legte. Da die meisten Schüler an die Decke starrten, tat er es ihnen gleich.
    Harald war kurzentschlossen auf einen Stuhl gestiegen, streckte sich und erreichte die Decke mit der Hand. Sie fühlte sich weicher an, als es bei Stein zu erwarten war. Er wusste nicht, wie er das in Worte fassen sollte. Sie kam ihm auch ein wenig warm vor.
    „Was ist denn?“, erkundigte sich der Lehrer verstört.
    „Die Tafel! Mein Gott, die Tafel!“ Eines der Mädchen schrie es, und Harald war von einem Augenblick zum anderen nicht mehr der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Tatsächlich hatte sich die Tafel hinter dem Lehrer verändert. Sie war mit einer Schuppenhaut überzogen, die einem Reptil zu gehören schien. Die Worte, die der Pauker mit Kreide darauf geschrieben hatte, bildeten ein Muster von hellen Narben – als hätte das Tier, dem die Haut gehörte, heftige Kämpfe ausgefochten. Die Konstruktion, die die Tafel hielt, fing an zu knarren, und die Metalleinfassung an einer Seite platzte weg. Der Tafelwischer fiel zu Boden.
    Dies war der Punkt, an dem das Staunen der Schüler in Panik umschlug. Die Jugendlichen stürmten auf die Tür zu. Einige von ihnen nahmen ihre Schulsachen mit, die meisten ließen sie einfach liegen. Am längsten brauchte der Lehrer, um die Situation zu verarbeiten. Er stand zwei Meter von der Tafel entfernt, die Gitarre in der Hand, und Johannes nahm seine Rechte und zerrte ihn mit sich aus dem Klassenzimmer hinaus.
    Die Tür hatte geklemmt, als hätte sich das ganze Haus verzogen, und ein Junge musste mit dem Fuß dagegen treten, um sie zu öffnen. Als Harald vom Flur aus noch einen Blick in den Raum warf, sah er ein Objekt unter dem Teppichboden. Es bewegte sich wie eine Katze oder eine große Ratte unter einem Tuch. In diesem Fall war es vollkommen unmöglich, denn der Teppichboden war fest mit dem Untergrund verleimt. Nichts konnte dazwischen geraten. Mehrere Stühle und ein Tisch fielen um, als das Objekt seine ziellosen Runden durch das Klassenzimmer zog.
    Harald schnappte sich die Türklinke und versuchte die Tür zuzuschlagen, als auch Johannes und der Lehrer den Raum verlassen hatten. Doch der Türrahmen hatte sich mittlerweile so stark verformt, dass die Tür nicht mehr zu schließen war. Das Objekt oder Wesen, das unter dem Teppichboden herumgekrochen war, entwischte aus dem Zimmer und bewegte sich nun einige Meter weit in den Steinboden des Korridors hinein. Dort tauchte es unter, als wäre es ein Fisch und der Boden die Oberfläche eines Sees.
    Einige liefen los, rannten weg, die anderen sahen sich konsterniert an. Ein paar von ihnen schrien, und nur die wenigsten davon waren Mädchen. Harald fand, dass vor allem Johannes sich unmöglich benahm. Anstatt nach einem Ausweg zu suchen, redete er unablässig auf den Lehrer ein. „Ist das Satan?“, fragte er. „Ist er das? Sieht er so aus?“ Der Religionslehrer wollte sich in einer so wichtigen theologischen Frage wohl nicht festlegen. Vielleicht fürchtete er sich davor, den Leibhaftigen durch ein klares Ja oder Nein erst herbeizulocken. Auf jeden Fall blieb er seinem Schüler die Antwort schuldig.
    Jetzt öffnete sich auch die Tür eines anderen Klassenzimmers. Eine Horde kleinerer Schüler – Fünft- oder Sechstklässler vermutlich – drängte kreischend heraus. Harald hätte interessiert, was sie gesehen hatten, aber sie machten nicht den Eindruck, zu einem sinnvollen Gespräch in der Lage zu sein. Schüler aus Haralds Klasse hatten inzwischen das Hauptportal erreicht. Seine Befürchtung, auch diese Tür könne klemmen und sich möglicherweise überhaupt nicht öffnen lassen, bewahrheitete sich nicht. Zwar schien sich etwas an ihr verändert zu haben (ihre Oberfläche war dunkler geworden, feucht und lebendig beinahe), und der Miene nach zu urteilen, die der Junge zog, der die Hand auf der Klinke hatte, fühlte sich diese weich oder glitschig an, doch es bedeutete keine Schwierigkeiten, sie aufzudrücken.
    Harald ließ die Fliehenden durch und fand genügend Ruhe, um seine Blicke durch das Innere der Schule schweifen zu lassen. Alles hatte sich verändert, doch die Unterschiede waren nun nicht so deutlich wie zuvor. Eine Art Aderwerk durchzog die steinernen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher