Während die Welt schlief
Trümmer gelegt, und Dalia verlor ihre ganze Familie bis auf zwei Schwestern. Ihr Vater lag verkohlt auf dem Dorfplatz, auf dem er ihr die Hand verbrannt hatte. Innerhalb von Stunden war die Welt auf den Kopf gestellt worden und Ismael vor lauter Weinen völlig erschöpft.
Obwohl er schwer war, presste Dalia ihn an ihre Brust, weil sie Angst hatte, ihn hinzulegen. Andere Überlebende taumelten wie sie schweigend und benommen umher. Es herrschte eine brüchige Stille, der weder Wut noch Liebe, Verzweiflung oder gar Furcht innewohnten. Dalia inspizierte den verbrannten, leblosen Boden. Sie spürte ein Jucken in der linken Kniekehle und konzentrierte sich darauf, konnte sich aber nicht dazu aufraffen, dort hinzufassen.
Hasan war im Stall gewesen, als die ersten Bomben fielen, und rannte los, um seine Familie so schnell wie möglich einzusammeln. In der schrecklichen Stille nach dem Anschlag fand er Dalia wie erstarrt dasitzen. Ihre steife Haltung, ihr starrer Blick und der feste Griff, mit dem sie Ismael umklammerte, erschreckten ihn. »Dalia!«, rief er und rannte auf sie zu. Sie rührte sich nicht.
Vor ihr angekommen, wurde ihm das Herz so schwer, dass er auf die Knie sank. Yussufs kurze Beine zitterten heftig, und seine kleinen Hände klammerten sich fest an Dalias Thoba.
»Baba!«, schrie Yussuf erleichtert, als er seinen Vater sah. Als Dalia seine Stimme hörte, blinzelte sie.
»Komm her, Habibi.« Hasan hob seinen Sohn hoch und stand auf. Seine Angst wuchs, denn Dalia hatte sich noch immer nicht bewegt. Yussufs Hand umfasste verzweifelt den Nacken seines Vaters, und Hasan bemerkte, dass die Hosen seines Sohns mit Kot und Urin beschmutzt waren.
»Darwish! Ya abuya!« Hasan rief seinen Bruder und Yahya zu Hilfe, doch es war Haj Salim, der als Erster auftauchte. »Gott verfluche sie. Gott lasse die Juden zur Hölle fahren«, war alles, was er flüsternd hervorbrachte, als er sah, in welchem Zustand sich Dalia befand. »Sie wird sich die Zähne ruinieren, wenn sie sie weiter so zusammenbeißt. Hasan, gib mir den Jungen, und du trägst deine Frau.«
Doch Yussuf weigerte sich, seinen Vater loszulassen und die Augen zu öffnen. Der verängstigte Junge mit den beschmutzten Hosen hielt Hasan – seine Zuflucht – sicher umklammert. Genau in diesem Moment tauchte Darwish auf, und Hasan rief ihm zu: »Mein Bruder, trag Dalia. Der Ostflügel des Hauses ist noch unbeschadet.« Darwish hob Dalia auf, die Ismael noch immer an ihrer Brust hielt. Sie blinzelte, sog den Anblick eines makellosen Himmels in sich auf – wie hübsch und klar –, bis Darwish sie hineintrug und sie nur noch die verputzte Decke ihres Hauses sehen konnte. Mein Ismael ruht sicher in meinen Armen. Und da ist Yussuf, in den Armen seines Vaters geborgen. Ich hatte einen Albtraum, nicht wahr?
Es verging nicht einmal ein Tag, bis israelische Soldaten erneut in das Dorf eindrangen. Dieselben Männer, die man zum Essen eingeladen hatte, marschierten nun durch Ein Hod und richteten ihre Gewehre auf die Menschen, die sie bewirtet hatten. Hasan, Darwish und andere Männer wurden angewiesen, ein Massengrab für dreißig frische Leichen auszuheben. Bis auf zwei konnten die Dorfbewohner alle identifizieren. Beim Graben schrieb Hasan traurig die Namen seiner gefallenen Freunde und Landsleute auf den Ärmel seiner Dishdasha. Er stand so unter Schock, dass er nicht einmal trauern konnte. Al Fathiha. Staub zu Staub …
Fassungslos – Ist das ein Traum? – und vollkommen verstört fügten sich die Dorfbewohner. Die Kinder weinten.
»Sammelt eure Wertgegenstände ein. Versammelt euch beim östlichen Wasserbrunnen. Bewegt euch! Es ist nur vorübergehend. Geht zum Brunnen«, befahl eine Lautsprecherstimme wie ein verborgener Gott, der den Menschen ihr Schicksal zuteilte. Der Himmel noch immer unendlich. Die Sonne unbarmherzig. Dalia steckte das Gold in die Brusttasche ihrer
Thoba und raffte, wie befohlen, die Wertgegenstände zusammen, Ismael auf der linken Hüfte, Yussuf an der rechten Hand.
»Mama, Baba soll mich tragen«, bat Yussuf.
»Geh, Habibi. Allah sei mit uns allen.« Dalia ließ die kleine Hand los, und Yussuf sprang zu seinem Vater. Allah sei mit uns allen .
Um den Brunnen herum wimmelte es von Menschen, deren Gesichter vor Angst zerfurcht und verzerrt waren. Wenn die Angst nicht wäre, dachte Yahya, könnten sie zusammengerufen worden sein, um sich auf die Ernte vorzubereiten. Die Ernte , dachte er.
»Was nun?«, fragte Haj Salim.
Darwish und
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