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Wachkoma

Wachkoma

Titel: Wachkoma
Autoren: Jasmin P. Meranius
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jetzt nicht bei ihnen sein konnte. Erst vor vier Jahren hatte sie ihren Mann wegen eines schweren Herzinfarkts zu Grabe getragen. Auch er war stets über seine Grenzen hinaus gegangen. Genau wie alle Männer in seiner Familie.
    Ein Teil von ihnen lebte in Russland und arbeitete körperlich sehr hart in der Landwirtschaft und Viehzucht. Ohne auch nur einen Tag Urlaub im Jahr. Ob bei Minusgraden oder bei stechender Hitze – das Vieh musste versorgt werden, hieß es Jahr für Jahr als Ausrede dafür, warum sie wieder einmal die Einladung nach Deutschland ausschlagen mussten.
    Auch wenn ihr Mann Russland bereits als junger Mann verlassen hatte, um in Deutschland zu studieren, hatte er niemals diese Arbeitsmoral abgelegt.
    Der Fleiß und die Sechstagewoche steckten genauso in ihm wie auch in Beata. Das hatte sie von ihrem Vater schon früh übernommen.
    Besonders, seit der Vater nicht mehr da war, hatte die Mutter den Eindruck, dass sich der Ehrgeiz und die Arbeitszeit ihrer Tochter verdoppelten, als würde sie jetzt für sie beide weiterarbeiten – für ihren Vater und für sich –, um etwas weiterzuführen, das ihr Vater nun nicht mehr konnte.
    Öfter schon hatte sie versucht, mit ihrer Tochter darüber zu sprechen, ihr klarzumachen, dass sie sich in etwas verrannt habe und sie mit der vielen Arbeit den Tod ihres Vaters nicht ungeschehen machen könnte. Doch Beata wollte davon nie etwas hören und arbeitete weiter wie zuvor. Sie wollte den Zusammenhang zwischen der vielen Arbeit und dem Tod ihres Vaters einfach nicht sehen.
    Und nun hätte ihre Tochter beinahe dasselbe Schicksal ereilt wie vor vier Jahren Beatas Vater. Nur viel jüngeren Alters. Die Mutter brach bei diesem Gedanken erneut in Tränen aus.
    „Du hättest es doch besser wissen müssen, mein Kind. Stattdessen vergisst du tatsächlich die Gräber deiner Väter. Du weißt gar nicht, was du versäumt hast in deinem Leben! Kannst du mich hören, mein Kind? Hörst du mich? Nicht einmal Großmutter durfte ich werden. Bleibe ganz alleine zurück. Was habe ich in meiner Erziehung bloß falsch gemacht, dass du sogar das Geburtsrecht deiner Kinder vergisst!“
    ***

Es war nicht ihr letzter Gefühlsausbruch, denn es sollten insgesamt acht emotional strapazierende Wochen vergehen, in denen Beata nie auch nur eine Reaktion zeigte.
    Nicht einmal auf ihre alte Lieblingsgeschichte vom kleinen Kometen, die sie ihr so oft vorlas, wie sie nur konnte. Lediglich die junge Wachkomapatientin reagierte noch immer mit unerklärlich heftigen Emotionen.
    Auch wenn Beatas Mutter natürlich froh war, dass wenigstens das junge Mädchen auf das Vorlesen zu reagieren schien, belastete es sie doch, dass sie ihre Beata damit nicht erreichen konnte.
    „Wieso erhoffte ich mir überhaupt, dass du reagierst, Beata? Du hast es doch schon so lange nicht mehr. Erst recht nicht seit dem großen Streit, den wir vorletztes Jahr an Weihnachten hatten“, beklagte sie sich aufgelöst und hatte dabei nicht einmal bemerkt, dass die Krankenschwester das Zimmer betreten hatte, die mit der unentwegt weinenden Mutter schon langsam überfordert war.
    „Auch wenn du das schon beim letzten Mal nicht hören wolltest, kann ich es nicht anders sagen: Du hast dich so sehr verändert, mein Kind. Du hast so fürchterlich an Farbe verloren in den letzten vier Jahren. Ohne dein alltägliches Tun zu hinterfragen. Scheinst überhaupt nichts mehr zu hinterfragen, was dein Leben betrifft. Du sprichst wie eine Außerirdische, wenn wir telefonieren, dass ich dich nicht verstehen kann – als hättest duunsere Sprache vergessen. Verstehst nicht mehr, was wir sagen. Hörst es nicht mehr. Hörst du dich selbst noch? Es ist das Kostüm der Arbeit, welches das aus dir macht, Beata. Dich so verwandelt für den Tag. Doch es schützt dich nicht. Zieh es aus, dann wird alles einfacher werden. Leg es ab und komme um Himmels Willen wieder zurück, Beata.“
    „Ihre Tochter kann Sie nicht mehr so hören und verstehen wie sonst, auch wenn Sie noch so energisch zu ihr sprechen“, versuchte die Krankenschwester die Mutter zu beruhigen. „Das strengt Sie beide doch nur an. Vielleicht bedarf es da eines besonderen Sprachmediums – eines anderen als des Wortes. Es reicht vielleicht schon, wenn Sie etwas Musik spielen.“
    „Ein besonderes Sprachmedium?“, wiederholte die Mutter enttäuscht. „Sie sprechen, als müsste ein Wunder geschehen, damit meine Worte meine Tochter erreichen!“
    Die junge Wachkomapatientin schrie in
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