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Wachkoma

Wachkoma

Titel: Wachkoma
Autoren: Jasmin P. Meranius
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heranwachsen. Mit meinem grauen Haar an seiner Spitze.“
    Beata mochte diese Geschichte. Mochte ihre Botschaft.
    Die Alte hatte den Jungen etwas gegeben, das sie selbst nicht besaßen und bekam dafür etwas, das nur die Jungen hatten. So, wie es zwischen Alt und Jung auch sein sollte.
    Wieso war das in der heutigen Zeit verloren gegangen?
    Jemand sollte diese Erzählung, ihre Botschaft, wieder aufgreifen und bekannt machen. Die Wende, das Alter als Zeit der Weisheit zu bezeichnen anstatt als Gefahr, müsste endlich einmal eingeleitet werden. So, wie auch alle paar Jahre immer wieder erfolgreich die Trendwende in der Mode stattfindet.
    Das Alter muss also wieder in Mode gebracht werden, dachte Beata und hörte Papier in ihrer Hosentasche knistern.
    Sie zog einen kleinen zusammengefalteten Zettel aus ihr heraus, den sie wohl eingesteckt haben musste, als sie im Zimmer der Dürren nach Zetteln mit Telefonnummern gesucht hatte, und ihn dann darin vergessen haben.
    In großen Druckbuchstaben las sie darauf geschrieben:
    „Krankheit ist wie eine rote Ampel.
Sie zwingt dich, stehen zu bleiben.
Sie erlaubt dir aber auch innezuhalten.
Oft ist sie der einzige Weg, zu dir selbst zu finden.
Gesundheit ist wie eine grüne Ampel.
Ihr war irgendwann vielleicht eine rote Ampel vorgeschaltet.“
    Christine Meranius (2002)
    Beata drehte den Zettel um und entdeckte auf der Rückseite des Gedichts noch etwas klein und in schlecht leserlicher Schreibschrift geschrieben:
    Beata, es ist Zeit, die Ampel des Lebens wieder auf Grün zu stellen und zurückzugehen.
    Es war wirklich so weit.
    Beata fühlte es und hatte den Moment soeben festgelegt, ihre Agenda zu vergraben, sie zu verabschieden, wie einen Gesetzesentwurf, damit die Ampel für sie im neuen Jahr, wieder auf Grün stehen würde.
    Sie wusste zwar noch immer nicht, wie sie die Ziele ihrer Agenda realisieren würde, aber das wussten Politiker, wenn sie öffentlich ihre Ziele formulierten, meist auch noch nicht. Doch manchmal war auch schon der Weg das Ziel. Und auf diesen machte sie sich sogleich.
    Als sie an der Rezeption vorbeilief, rief ihr der Rezeptionist mit hektischer Stimme zu: „Telefon für Sie, es ist Ihr Chef. Es ist wohl sehr wichtig!“, und hielt ihr auffordernd den Hörer hin.
    Beata stoppte.
    Da war er, der schon so lange erwartete Rückruf von ihrem Chef. Sie lief in alter Manier ein paar Schritte auf den Rezeptionisten zu, versuchte, nach dem Hörer zu greifen, hielt dann aber inne.
    „Ich rufe zurück. Ich bin gerade nicht zu sprechen. Sagen Sie ihm, wir sehen uns im neuen Jahr.“
    Beata machte kurzerhand auf dem Absatz kehrt. Sie lief nach draußen, ohne sich noch einmal umzublicken.
    Welch losgelöstes Gefühl, dachte Beata. Und der Zeitpunkt hätte nicht besser gewählt sein können, als habe er sogar sie gewählt und nicht umgekehrt.
    Beata hatte das Haus über den hinteren Ausgang, über die große Veranda, verlassen.
    Es war der kürzeste Weg nach draußen.
    Bevor sie auf dem Feldweg um die Ecke bog, blickte sie noch einmal kurz zum Haus zurück.
    Der Vorhang über der Veranda stand offen und sie sah die Dürre, die ein paar eindeutige Handbewegungen machte, die Beata zum Weitergehen animieren sollten.
    Was sie auch tat.
    Beata bog um die Ecke und lief den Feldweg weiter entlang. In der Nähe vom Schilf, am See, würde sie ihre Agenda vergraben, denn der Boden war überall sonst zugefroren.
    Es gelang ihr, das Papier mit Erde zu bedecken.
    Zufrieden und voller Übermut stapfte sie nur wenige Minuten später durch die hohen Schneehaufen und konnte sich kaum entscheiden, ob sie hüpfen oder rennen sollte.
    Wie einen Magnet zog es sie auf den gefrorenen See und so stieg sie spontan auf die dicke Eisdecke.
    Der Winter hatte sich einfach genommen, was er wollte – das Wasser, die Wellen, das Leben darin. Einfach alles. Als habe auch er die Ampel bis zum nächsten Frühjahr auf Rot gestellt.
    Wie ein kleines Mädchen schlitterte Beata übermütig über die große Eisdecke, als würde sie Schlittschuhe tragen. Sie ließ sich einfach gleiten und fühlte sich nach langer Zeit wieder gut und voller Lebensfreude.
    Lauthals musste sie über ihren eigenen Übermut lachen.
    Sie wollte leben!
    Doch plötzlich knarrte es unter ihren Füßen.
    Beata blieb abrupt stehen – ihren Atem anhaltend, die Arme ausbalancierend in der Schwebe.
    Das Knacken zeigte sich als Sprung in der Eisdecke, die sogleich auseinanderzubrechen drohte. Und nur einen winzigen Moment später
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