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Vorsatz und Begierde (German Edition)

Vorsatz und Begierde (German Edition)

Titel: Vorsatz und Begierde (German Edition)
Autoren: P. D. James
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als Privileg betrachtete.
    »Ich hätte mir denken können, daß man Sie heranzieht, um den Whistler aufzuspüren«, sagte sie.
    »Nein, das ist Gott sei Dank die Sache der Kripo von Norfolk. Daß Scotland Yard eingeschaltet wird, kommt häufiger in Romanen als in der Wirklichkeit vor.«
    »Trotzdem paßt es mir gut in den Plan, daß Sie, aus welchem Grund auch immer, nach Norfolk fahren. Ich würde die Korrekturfahnen nur ungern der Post anvertrauen. Hat nicht Ihre Tante in Suffolk gelebt? Jemand sagte mir, daß Miss Dalgliesh verstorben sei.«
    »Bis vor fünf Jahren lebte sie in Suffolk. Dann ist sie nach Norfolk verzogen. Ja, meine Tante ist unlängst gestorben.«
    »Nun ja, Suffolk oder Norfolk – so groß wird der Unterschied schon nicht sein. Aber es tut mir leid, daß sie verstorben ist.« Einen Augenblick lang schien sie über die Sterblichkeit aller Menschen nachzusinnen und die beiden Grafschaften zum Nachteil beider gegeneinander abzuwägen. Schließlich fuhr sie fort: »Und sollte Miss Mair nicht zu Hause sein, dann werden Sie doch bestimmt nicht das Paket einfach vor die Tür stellen, nicht wahr? Ich weiß zwar, daß die Leute auf dem Lande ungemein vertrauensvoll sind, aber der Verlust der Korrekturbögen wäre nahezu eine Katastrophe. Möglicherweise ist ihr Bruder, Dr. Alex Mair, da, wenn Alice nicht daheim ist. Er ist der Direktor des Atomkraftwerks bei Larksoken. Aber vielleicht sollten Sie das Paket auch ihm nicht aushändigen. Männer sind ja zuweilen so schusselig.«
    Dalgliesh wollte schon erwidern, einem der führenden Atomphysiker des Landes, dem Leiter eines Atomkraftwerks und, wenn man den Zeitungen glauben durfte, Anwärter auf den neugeschaffenen Posten eines AKW-Generalbevollmächtigten, könne man getrost einen Packen Korrekturbögen anvertrauen. »Sollte sie zu Hause sein«, sagte er statt dessen, »werde ich ihr das Paket persönlich übergeben. Wenn sie nicht daheim ist, behalte ich es, bis ich sie antreffe.«
    »Ich habe ihr das mit den Korrekturbögen schon telephonisch mitgeteilt. Sie erwartet Sie also. Die Anschrift habe ich draufgeschrieben. Martyr’s Cottage. Ich nehme an, Sie werden’s schon finden.«
    »Mit Straßenkarten kennt er sich aus«, bemerkte Costello mit säuerlicher Stimme. »Vergessen Sie nicht, daß er eigentlich ein Polizeifahnder ist.«
    Dalgliesh sagte, er wisse, wo Martyr’s Cottage liege; er kenne auch Alexander Mair, nicht aber dessen Schwester. Selbst wenn seine Tante sehr zurückgezogen gelebt habe, so würden sich doch die Leute, die als Nachbarn in einer entlegenen Gegend wohnen, irgendwann einmal treffen. Alice Mair sei verreist gewesen, als ihm ihr Bruder nach dem Tod von Miss Dalgliesh in der Mühle einen Beileidsbesuch abgestattet hätte.
    Er übernahm das Paket, das erstaunlich groß, schwer und mit einem abschreckenden Wirrwarr von Klebebandstreifen umwickelt war, und glitt langsam mit dem Fahrstuhl zum Erdgeschoß, von wo aus er sich zu dem kleinen Verlagsparkplatz und seinem abgestellten Jaguar begab.

4
    Sobald Dalgliesh die verschlungenen Tentakel der östlichen Stadtrandsiedlungen hinter sich gelassen hatte, legte er ein flottes Tempo vor und erreichte gegen 3 Uhr nachmittags die Ortschaft Lydsett. Von der Küstenstraße bog er rechts ab und kam auf einen mehr oder minder ebenen Feldweg, den mit Wasser gefüllte Gräben und golden schimmerndes Röhricht säumten. Die schweren Kolben wiegten sich im Wind. Er bildete sich sogar ein, er könne schon die Nordsee riechen, jenen unverkennbaren, aber flüchtigen Duft, der sehnsüchtige Erinnerungen an die Ferien in seiner Kindheit weckte, an seine einsamen Wanderungen als Jugendlicher, auf denen er sich mit seinen ersten Gedichten abgemüht hatte, an die hochgewachsene Gestalt seiner Tante, die, das Fernglas um den Hals gehängt, an seiner Seite ging, und den Nistplätzen ihrer geliebten Vögel zustrebte.
    Es war also immer noch da, das vertraute alte Gatter, und versperrte die Weiterfahrt. Daß es noch vorhanden war, überraschte ihn stets, da es für ihn keinen ersichtlichen Zweck hatte, es sei denn, zumindest symbolisch die Landspitze abzuschirmen und dem Wanderer eine Gelegenheit zum Nachdenken zu geben, ob er wirklich weiter vordringen wolle.
    Das Gatter ließ sich leicht öffnen, nur das Schließen war wie immer schwierig. Er gab ihm einen Ruck und mußte es etwas anheben, bis es wieder an seinem Platz war. Als er die Drahtschlinge über den Pfosten streifte, hatte er das vertraute
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