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Vorsatz und Begierde (German Edition)

Vorsatz und Begierde (German Edition)

Titel: Vorsatz und Begierde (German Edition)
Autoren: P. D. James
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Sie trug einen schwarzen Kaschmirsweater, rehbraune Hosen und um den Hals ein Seidentuch. Er hätte auch so gewußt, wer sie war, da sie ihrem Bruder ähnelte, selbst wenn sie ein paar Jahre älter sein mochte. Daß sie einander kannten, schien für sie selbstverständlich zu sein. Sie trat beiseite, um ihn einzulassen, und sagte: »Das ist aber freundlich von Ihnen, Mr. Dalgliesh, daß Sie sich die Mühe gemacht haben. Ich weiß, Nora Gurney ist da unerbittlich. Als sie hörte, daß Sie nach Norfolk fahren würden, waren Sie das geeignete Opfer. Bringen Sie die Korrekturbögen ruhig mit in die Küche!«
    Sie hatte ein apartes Gesicht: tiefliegende, weit auseinanderstehende Augen unter geraden Brauen, einen wohlgeformten, aber verschwiegen wirkenden Mund und kräftiges, graumeliertes Haar, das zu einem Chignon aufgesteckt war. Auf den PR-Photos hatte sie, wie er sich erinnerte, reizvoller ausgesehen, wenn auch auf eine einschüchternde, intellektuelle, typisch englische Art. Doch als sie nun vor ihm stand, fand er, daß sie selbst in der legeren Atmosphäre ihres Hauses keinerlei erotische Ausstrahlung hatte, daß sie durch ihre spürbare, tiefsitzende Reserviertheit weniger feminin und noch abweisender wirkte, als er sich vorgestellt hatte. Ihre steife Haltung schien auszudrücken, daß sie sich jegliche Einmischung in ihr Privatleben verbat. Sie begrüßte ihn mit einem kühlen, festen Händedruck und lächelte ihn kurz, aber auffallend liebenswürdig an. Ihre Stimme – er wußte, wie feinhörig er in dieser Beziehung war – klang nicht unangenehm, jedoch ein wenig gezwungen, als würde sie absichtlich unnatürlich hoch sprechen.
    Er folgte ihr durch die Eingangsdiele in die nach hinten gelegene Küche. Sie war etwa sieben Meter lang und diente anscheinend einem dreifachen Zweck: Sie war Wohnraum, Arbeitsstelle und Büro in einem. Rechter Hand befand sich eine wohleingerichtete Küchenzeile mit einem großen Gasherd samt Dunstabzug, einem Hackklotz, wie ihn Metzger haben, einem Küchenschrank rechts neben der Tür mit einem Sortiment blinkender Töpfe und einer langen Arbeitsplatte mit einer dreieckigen Holzscheide, in der unterschiedliche Messer steckten. Mitten im Raum stand ein großer Holztisch mit einer Keramikvase voller Trockenblumen. An der Wand links war ein offener Kamin. Zwei deckenhohe Bücherregale füllten die beiden Mauernischen links und rechts davon, zwei hochlehnige, kunstvoll geflochtene Korbsessel mit Patchworkkissen standen jeweils daneben; vor einem der großen Fenster ein offener Rollsekretär, rechts davon eine Stalltür. Die obere Hälfte war offen und gab den Blick frei auf den gepflasterten Innenhof. Draußen sah Dalgliesh schön geformte Keramiktöpfe mit Küchenkräutern, die so gestellt waren, daß sie möglichst viel Sonnenlicht abbekamen. Der Raum, der nichts Überflüssiges, nichts Protziges enthielt, war gemütlich, und er überlegte, warum er so auf ihn wirkte. Lag es an dem feinen Duft nach Kräutern, nach frischem Gebäck, am leisen Ticken der Wanduhr, die die verstreichenden Sekunden anzeigte und dennoch die Zeit zu bannen schien? Am rhythmischen Rauschen des Meeres, das durch die halboffene Tür drang? Am Gefühl der Geborgenheit, das die beiden Sessel mit ihren Kissen, der offene Kamin auslösten? Oder rührte es daher, daß ihn dieser Raum an die Pfarrhausküche erinnerte, wo er, das vereinsamte Einzelkind, einst Wärme, herzliche, von keiner Gängelung getrübte Aufnahme gefunden hatte, wo man ihn mit heißem, vor Butter triefendem Toast und kleinen, sonst verbotenen Leckerbissen verwöhnt hatte?
    Er legte das Paket mit den Korrekturbögen auf die Schreibtischplatte, lehnte den Kaffee ab, den Alice Mair ihm anbot, und folgte ihr zur Haustür. »Es tut mir leid wegen Ihrer Tante«, sagte sie, als sie ihn zum Wagen begleitete. »Ich meine Ihretwegen. Denn ich denke, für eine Ornithologin verliert der Tod seinen Schrecken, wenn erst einmal Sehkraft und Gehör zu schwinden beginnen. Und einfach zu entschlafen, ohne Schmerz und ohne eine Belastung für andere zu sein, ist ein beneidenswertes Lebensende. Aber Sie haben sie so lange gekannt, daß sie Ihnen unsterblich vorgekommen sein muß.«
    Es ist nicht leicht, dachte er, Beileid zu äußern oder hinzunehmen; zumeist klingt es banal oder geheuchelt. Diese Worte dagegen hatten einfühlsam geklungen. Jane Dalgliesh war ihm tatsächlich unsterblich erschienen. Alte Menschen, dachte er weiter, machen unsere Vergangenheit aus.
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