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Vorsatz und Begierde (German Edition)

Vorsatz und Begierde (German Edition)

Titel: Vorsatz und Begierde (German Edition)
Autoren: P. D. James
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Holunderhecken dahin. Der Weg führte nur zu Scudder’s Cottage; der Name stand in ungefügen Lettern auf einem Brett, das ans Gatter genagelt war. Jenseits des Anwesens erweiterte sich die Zufahrt zu einem unebenen, geschotterten Wendeplatz, den ein gut fünfzehn Meter langer Kieswall abschloß. Dahinter rauschte und gurgelte das Meer. Scudder’s Cottage wirkte malerisch mit seinen kleinen Fenstern und dem tief heruntergezogenen Ziegeldach. Davor prangte eine blühende Wildnis, die wohl einst ein Garten gewesen war. Theresa rannte durch das kniehohe Gras, vorbei an den üppigen, verwilderten Rosensträuchern, zur Veranda, wo sie sich reckte, um an den Hausschlüssel zu gelangen, der an einem Nagel hing. Vermutlich wurde er dort aufbewahrt, damit er nicht verlorenging, und weniger aus Sicherheitsgründen, dachte Dalgliesh, der ihr, Anthony auf dem Arm, folgte.
    Im Inneren war es heller, als er angenommen hatte. Dazu trug die offenstehende rückwärtige Tür bei, die zu einem Glasanbau – mit Blick auf die Landzunge – führte. Dalgliesh bemerkte die Unordnung ringsum. Auf dem Tisch in der Mitte prangten die Überreste des Mittagessens – mit Tomatensoße beschmierte, unterschiedlich große Teller, auf einem eine angebissene Wurst, daneben eine unverschlossene Flasche mit Orangensaft. Auf der Lehne eines niedrigen Babystuhls am Kamin lagen, achtlos hingeworfen, Kleidungsstücke. Es roch nach Milch, nach verschwitzten Menschen, nach Holzfeuer. Aber was ihm am meisten auffiel, war ein großformatiges Ölbild, das, der Tür zugekehrt, auf einem Stuhl abgestellt war. Es war ein mit ungewöhnlicher Ausdruckskraft gemaltes Dreiviertelporträt einer Frau. Es war dermaßen dominant in dem kleinen Raum, daß er und Alice Mair es eine Weile wortlos betrachteten. Auch wenn der Maler sich bemüht hatte, jegliche Übersteigerung zu vermeiden, war es weniger ein Abbild als eine Allegorie. Hinter dem Gesicht mit den geschwungenen, vollen Lippen, den arrogant dreinblickenden Augen und dem dunklen, lockigen, wie auf Bildern der Präraffaeliten im Wind wehenden Haar sah man eine naturgetreue Darstellung der Landzunge. Die Einzelheiten waren mit der peniblen Genauigkeit der Maler des sechzehnten Jahrhunderts wiedergegeben – das viktorianische Pfarrhaus, die verfallene Abtei, die verwitterten Bunker, die verkrüppelten Bäume, die weiße, einem Kinderspielzeug gleichende Mühle und – dräuend vor dem flammendroten Abendhimmel – das Atomkraftwerk. Aber es war die Frau – die Arme ausgestreckt, die Handteller dem Betrachter zugewandt, als würde sie die Landschaft höhnisch segnen –, die das Bild beherrschte. Dalgliesh fand es technisch brillant, aber auch ungemein drastisch. Es mußte in einem Anfall von Haß entstanden sein. Blaneys Absicht, das Böse im Menschen darzustellen, war so offensichtlich, als trüge das Porträt die entsprechende Bezeichnung. Es unterschied sich von seinen sonstigen Arbeiten. Ohne die augenfällige Signatur – es war nur der Nachname – hätte Dalgliesh bezweifelt, daß es wirklich Blaneys Werk war. Er konnte sich noch gut an die bläßlichen, gefälligen Aquarelle der wohlbekannten Sehenswürdigkeiten von Norfolk – Blakeney, St. Peter Mancroft, die Kathedrale von Norwich – erinnern, die Blaney für die Läden in der Umgebung anfertigte. Es hätten Kopien von Ansichtskarten sein können und waren es wohl auch. In den Restaurants und Pubs hier in der Nähe hatte er ein paar kleinere Ölbilder gesehen, die sich, nachlässig ausgeführt, die Farben sparsam aufgetragen, gleichfalls von den biederen Aquarellen unterschieden, so daß man nur schwer glauben mochte, sie stammten vom selben Maler. Doch das Porträt hob sich von alldem ab. Es war verwunderlich, daß der Künstler, der diese fein abgestufte Farbenvielfalt zustande gebracht hatte, der einer solchen Malweise mächtig war, soviel Einfühlungsvermögen besaß, sich dazu herabließ, leicht verkäufliche Souvenirs für Touristen herzustellen.
    »Das haben Sie mir nicht zugetraut, nicht?«
    Sie waren von dem Bild so gebannt gewesen, daß sie Blaneys leises Eintreten – die Tür stand offen – nicht bemerkt hatten. Er gesellte sich zu ihnen und betrachtete das Porträt, als sähe auch er es zum erstenmal. Seine kleinen Töchter scharten sich um ihn, wie auf eine unausgesprochene Aufforderung hin; bei älteren Kindern hätte man das als eine Bekundung von Familiensolidarität deuten können. Dalgliesh hatte Blaney zuletzt vor
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