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Vorsatz und Begierde (German Edition)

Vorsatz und Begierde (German Edition)

Titel: Vorsatz und Begierde (German Edition)
Autoren: P. D. James
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und ließ die Kupplung los. Ihre Begleiterin dagegen zögerte, musterte Valerie, griff nach hinten und öffnete die hintere Wagentür.
    »Steig schon ein! Aber rasch. Wir fahren bis nach Holt. Wir können dich an der Kreuzung absetzen.«
    Valerie zwängte sich hinein, und der Wagen fuhr mit einem Ruck los. Zumindest ging es in die erwünschte Richtung. Sie brauchte nur ein paar Sekunden, um sich einen Plan auszudenken. Von der Kreuzung in Holt waren es nur wenige hundert Meter zu der Stelle, wo die Busroute einscherte. Das Stückchen konnte sie laufen und den Bus bei der Haltestelle vor dem Crown and Anchor noch erwischen. Dazu langte die Zeit. Der Bus benötigte mindestens zwanzig Minuten, bis er sich durch all die kleinen Ortschaften geschlängelt hatte.
    Erstmals redete die Fahrerin sie an. »Du solltest nicht per Anhalter fahren«, tadelte sie. »Weiß denn deine Mutter überhaupt, daß du aus warst und was du so treibst? Heutzutage scheinen die Eltern keine Macht mehr über ihre Kinder zu haben.«
    Blöde alte Zicke, dachte Valerie. Was geht dich das an, was ich so treibe? Nicht mal von den Lehrern in der Schule hätte sie sich diese Frechheit gefallen lassen. Aber sie verkniff sich eine patzige Antwort, was bei ihr sonst recht häufig vorkam, wenn sie von Erwachsenen kritisiert wurde. Sie mußte sich nun mal mit den beiden alten Schachteln abfinden. Da war es besser, sie nicht zu verprellen. »Ich sollte den Bus um 21 Uhr 40 nehmen«, erklärte sie. »Mein Daddy bringt mich um, wenn er erfährt, daß ich per Anhalter gefahren bin. Ich würd’s auch nie tun, wenn Sie ein Mann wären.«
    »Hoffentlich. Dein Vater hat völlig recht, wenn er dich zu Zucht und Ordnung anhält. Unsere Zeiten sind gefährlich für so junge Dinger wie dich. Vom Whistler mal ganz abgesehen. Wo wohnst du denn genau?«
    »In Cobb’s Marsh. Aber in Holt habe ich eine Tante und einen Onkel. Wenn Sie mich an der Kreuzung absetzen, fährt mein Onkel mich heim. Sie wohnen ganz in der Nähe. Wenn Sie mich da rauslassen, passiert mir nichts. Wirklich.« Die Lüge ging ihr glatt über die Lippen und wurde auch bedenkenlos hingenommen. Danach schwiegen sie. Valerie saß da und musterte die Köpfe der beiden, ihr kurzgeschnittenes graues Haar, die altersfleckigen Hände der Fahrerin am Steuerrad. Augenscheinlich Schwestern, dachte sie. Die gleichen Schädel, die gleichen Kinnladen, die gleichen geschwungenen Brauen über argwöhnischen, zornigen Augen. Die haben miteinander gestritten, dachte sie. Sie spürte die Spannung, die zwischen beiden herrschte. Sie war erleichtert, als die Fahrerin wortlos an der Kreuzung anhielt und Valerie sich mit einem gemurmelten Dankeschön hinauswinden konnte. Sie sah zu, wie sie weiterfuhren. Das sollten die letzten Menschen sein, von einem abgesehen, die sie noch lebend antrafen.
    Sie bückte sich, um die derben Schuhe anzuziehen, die sie auf Geheiß ihrer Eltern tragen sollte, wenn sie zur Schule ging, und war froh, daß die Umhängetasche endlich leichter wurde. Danach marschierte sie von der kleinen Ortschaft zu der Straßeneinmündung, wo sie auf den Bus warten wollte. Die Straße dorthin war schmal und unbeleuchtet. Bäume säumten sie auf der rechten Seite, dunkle, zugeschnittene Baumgerippe, die in den sternenübersäten Himmel ragten. Auf der linken Seite, wo Valerie ging, war ein schmaler Streifen von Sträuchern und Büschen, die hin und wieder so dicht und breit wuchsen, daß sie den Weg überwölbten. Sie war zutiefst erleichtert, weil alles so gut verlaufen war. Sie würde den Bus noch erreichen. Doch während sie nun in der gespenstischen Stille weitertrottete und ihre behutsamen Schritte hörte, die unnatürlich laut klangen, überfiel sie ein beklemmendes Gefühl, und sie verspürte den ersten Anflug von Unbehagen. Als sie sich diese bedrückende Regung erst einmal eingestanden hatte, ergriff die Furcht Besitz von ihr und steigerte sich zu unentrinnbarer Angst.
    Ein Auto näherte sich – einerseits ein Symbol von Sicherheit und Normalität, andererseits eine Bedrohung mehr. Jedermann wußte, daß der Whistler einen Wagen hatte. Wie hätte er sonst an so weit voneinander entfernten Orten in der Grafschaft all die Morde begehen können? Wie hätte er verschwinden können, nachdem er seine gräßlichen Taten verübt hatte? Sie trat unter einen überhängenden Busch. Ihre Angst wuchs. Das Motorengeräusch kam näher. Kurz leuchteten die Katzenaugen auf, dann rauschte der Wagen an ihr vorbei. Und
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