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Vor dem Sturm (German Edition)

Vor dem Sturm (German Edition)

Titel: Vor dem Sturm (German Edition)
Autoren: Jesmyn Ward
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vorhin umarmt hatte. Ich wusch sie in einer kleinen Pfütze im Wohnzimmer.
    »Hier können wir nicht bleiben. Wir müssen irgendwo unterkommen.« Randall verzog das Gesicht. »Deine Hand, und das Wasser …« Randall sprach nicht weiter. »Wer weiß, was in dem Wasser drin war.«
    Daddy schüttelte den Kopf, seine Lippen waren so schlaff wie bei einem Baby. Er wirkte benommen. Er starrte auf seinen Pick-up, das zerstörte Haus, den Hof, der unter den Bäumen und den Ablagerungen des Sturms gar nicht mehr zu sehen war.
    »Wo«, sagte er, und es war eine Feststellung ohne Antwort.
    »Bei Big Henry«, sagte Randall.
    Junior hing auf Randalls Rücken. Seine Augen waren endlich nicht mehr bedeckt, und offen. Er sah betrunken aus.
    »Was ist mit Skeet?«, fragte ich.
    »Der findet uns schon«, sagte Randall. »Daddy?« Er hob einen Arm in Daddys Richtung und wies mit dem Kopf zur Straße.
    »Jo.« Daddy räusperte sich.
    »Wir kriegen das wieder hin«, sagte Randall.
    Daddy schaute zu Boden und zuckte mit den Schultern. Er warf mir einen Blick zu, und Scham kroch über sein Gesicht wie eine Spinne, seitwärts, schnell, und dann schaute er am Haus vorbei zur Straße und lief langsam los, wacklig und humpelnd. Er hatte eine Wunde an der Rückseite seines Beins, die durch die Hose blutete.
    Wir suchten uns einen Weg um die umgestürzten, zerfetzten Bäume herum zur Straße. Wir waren barfuß, und der Asphalt war warm. Wir hatten keine Zeit gehabt, unsere Schuhe anzuziehen, ehe die Flut ihre Faust in unser Wohnzimmer gestoßen hatte. Der Sturm hatte die Bäume wie Grashalme aus dem Boden gerissen und überall verstreut. Wo die Straße verlief, erkannten wir an den Steinen im Asphalt, die wir unter den Füßen spürten; die Bäume, die ich kannte, die Eichen in der Kurve, die Kiefern entlang der geraden Strecke, die Magnolien an der Kreuzung waren allesamt umgeknickt und zerstört. Das Rauschen des Wassers in den Gräben, das wie Stromschnellen klang, begleitete uns die Straße hinunter bis ins Zentrum von Bois Sauvage.
    Das erste Haus, das wir sahen, war Javons. Die Schindeln waren abrasiert, das Dach kahl; das Haus war dunkel und sah leer aus, bis wir einen Mann, vermutlich Javon, denn er war so hell wie Manny, vor dem Holzhaufen, der mal der Carport gewesen sein musste, stehen und ein Feuerzeug anzünden sahen: ein Fünkchen Wärme in der kalten Luft, die der Sturm hinterlassen hatte. Bei den nächsten Häusern, als das Viertel allmählich dichter wurde, sahen wir, was andere erlitten hatten: Jedes Haus hatte sich dem Hurrikan gestellt, und jedes Haus hatte verloren. Franco und seine Eltern standen draußen auf dem Hof und schauten einander und die zerstörte Landschaft um sich herum verwirrt an. Ihr halbes Dach war weg. Christophes und Joshuas Veranda fehlte, und ein Teil ihres Dachs. Ein Baum war in Mudda Ma’ams und Tildas Haus gekracht. Und je dichter die Häuser standen, desto mehr Leute waren auf der Straße, die barfuß und halb nackt zwischen umgestürzten Bäumen und zerknautschten Trampolinen herumliefen, kopfschüttelnd miteinander sprachen und immer wieder die gleichen zwei Worte sagten:
am Leben am Leben am Leben am Leben
. Big Henry und Marquise standen vor Big Henrys Haus, dem ein Teil des Dachs fehlte wie allen anderen auch und das von sechs Bäumen umringt war, die mal im Garten gestanden hatten, jetzt aber das Haus wie ein grünes Gatter einzäunten.
    »Es ist ein Wunder«, sagte Big Henry. »Alle Bäume sind vom Haus weggefallen.«
    »Wir wollten gerade zu euch raufgehen und nach euch sehen«, sagte Marquise.
    Big Henry nickte, schwenkte die Machete mit der dunklen, scharfen Klinge, die er in der Hand hielt.
    »Falls wir uns einen Weg zu euch hätten freischneiden müssen«, erklärte Marquise.
    »Wo ist Skeet?«, fragte Big Henry.
    »Sucht«, sagte Randall und schob Junior ein Stück weiter seinen Rücken hoch.
    »Wonach?«, fragte Marquise.
    »Das Wasser hat China mitgenommen«, sagte ich.
    »Wasser?«, fragte Big Henry, und seine Stimme ging am Ende in die Höhe, brach fast.
    »Von dem Bach, der in die Grube fließt«, sagte Randall. »Das Haus wurde überflutet. Wir mussten zum alten Haus schwimmen und dort auf dem Dachboden den Sturm aussitzen.«
    Ich wollte sagen:
Wir wären fast ertrunken. Wir mussten mit Gewalt durchs Dach brechen. Wir haben die Welpen und China verloren
.
    »Wir brauchen eine Bleibe«, sagte ich.
    »Ich bin mit meiner Mama allein«, sagte Big Henry. »Massenhaft Platz. Kommt
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