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Vor dem Sturm (German Edition)

Vor dem Sturm (German Edition)

Titel: Vor dem Sturm (German Edition)
Autoren: Jesmyn Ward
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streichelt. So hat sie immer mit ihm dagesessen, wenn sie zusammen ferngesehen haben. Ich frage mich, ob das Phantomschmerzen sind und ob Daddy seine fehlenden Finger so spüren wird, wie wir Mama spüren, anwesend in der Abwesenheit. Trotzdem ist es schrecklich, als Daddy wieder zu mir hochschaut, über meine linke Schulter zur Tür blickt, und sie nicht mehr da ist.
    Wenn es ein Mädchen wird, werde ich sie nach meiner Mutter nennen: Rose. Rose Temple Batiste.
    »Wollt ihr mit nach St. Catherine?« Big Henry spricht schon, während er durch die Fliegengittertür kommt; seine rosigen Füße streifen aus Versehen Randalls Kopf, und Big Henry macht einen Satz nach hinten und knallt gegen den Türrahmen. Randall schaut schläfrig hoch. Ich lege eine Hand auf Juniors Kopf und rubbele.
    »Was?«
    »Ich hab Benzin. Wir können fahren. Mal sehn, wie’s da aussieht.«
    Randall wird langsam wach. Er reckt sich und spricht gähnend.
    »Wenn wir zurückkomm’, fahrn wir zum Haus hoch und sehn, ob wir noch Essen finden. Wir wissen, dass ihr’s auch nicht so dicke habt.«
    »Wir können Skeet abholen«, füge ich hinzu.
    Daddy schüttelt den Kopf. Eine Seite seines kurzen Afro ist geplättet.
    »Skeetah wird nicht mitkommen«, sagt Daddy. Er hält sich das Handgelenk seiner schlimmen Hand, reibt über die Haut, als könne er sie abschälen. Der Draht, der vor dem Unfall durch all seine Knochen zu gehen schien, vor dem Hurrikan, der ihn neben Mama so groß erscheinen ließ, ist zu einem Bindfaden erschlafft. »Ich brauch was hierfür.«
    Wenn es ein Junge wird, werde ich ihn nach Skeetah nennen.
Jason
. Jason Aldon Batiste.
    »Wir werden schon was auftreiben«, sagt Big Henry. Ich rüttele Junior wach. Der Himmel draußen ist blau und wolkenlos.
    Der Bayou, der entstanden ist, wo Bucht und Fluss aufeinandertreffen, ist so still wie an jedem beliebigen Sommertag, und dass der Hurrikan hier durchgekommen ist, ist so gut wie gar nicht zu erkennen außer an dem Wasser, das der Wind bis auf die Straße gezerrt und dort zurückgelassen hat. Wir hatten gedacht, wenn, dann würde das Wasser vom Bayou her kommen, deshalb glaubten wir, wir wären in Sicherheit, aber Katrina hat alle überrascht mit ihrer unbarmherzigen Stärke, ihrer Kraft und Ausdauer; es sind Dinge passiert, die noch nie passiert sind. Jetzt fahren alle Bewohner von St. Catherine, die in Bois Sauvage Verwandte haben und dort während des Sturms Zuflucht gesucht haben, aus Angst vor dem, was der Hurrikan in den Küstenstädten anrichtenwürde, in einer langen Reihe hintereinander her durch den untergegangenen Bayou wieder nach Hause. Big Henry hält sich dicht hinter dem Auto vor ihm; die Straße ist stellenweise ganz verschwunden, und wir sehen nur an dem umgeknickten Bayou-Gras, das entlang des versunkenen Asphalts wächst, dass wir nicht direkt ins Wasser fahren, dass Big Henrys Wagen nicht wie Daddys anfangen wird zu kreisen und wir untergehen. Das Wasser teilt sich und wallt wie Fischflossen seitlich von den Reifen weg, ehe sich die schlammigen Fluten wieder schließen. Ich frage mich, was der Sturm wohl vom Grund der Bucht hochgeholt hat, was er an Land geschwemmt und in dem warmen, undurchsichtigen Wasser zurückgelassen hat.
    »Wo sind die Bäume?«, fragt Junior.
    In Bois stehen noch welche: ein paar junge Bäume und zählebige Eichen, die dicht genug am Boden wachsen, um den schlimmsten Böen zu entgehen, aber sie haben alle Blätter und die Hälfte ihrer Äste verloren, sie sind so kahl, als wäre es mitten im Winter. Hier in St. Catherine jedoch wurden alle Bäume abgemäht, und man sieht viel zu viel Himmel. In Bois stehen die Häuser noch. Sie sind aufgerissen und zerschunden, so wie Skeetah und Rico nach der Schlägerei, und manche von ihnen neigen sich beschwipst zur Seite, so wie unseres, das halb versunken ist. Hier jedoch ist zu viel Himmel. Irgendetwas dreht sich in meiner Brust, breitet sich aus und fällt hinunter; zurück bleibt nur Leere.
    Die erste Hauptstraße, auf die wir in St. Catherine kommen, die, die quer durch den Norden der Stadt führt und folglich am weitesten vom Strand entfernt liegt, ist mit Schlamm überspült. Die Häuser, die hier standen, sind verschwunden, oder sie stehen auf dem Kopf oder wurden von ihren Fundamenten gerissen und sind in die Nachbarhäuser gerutscht. Die Oberschule ist überschwemmt, und die Grundschule ist platt gewalzt wie ein Pfannkuchen; an den Drähten der Strommasten, die auf der anderenStraßenseite
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