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Vor dem Sturm (German Edition)

Vor dem Sturm (German Edition)

Titel: Vor dem Sturm (German Edition)
Autoren: Jesmyn Ward
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der jener Tag sich ereignet hat, geblieben ist, denn wir sind eindeutig nicht in ihr.
    »Scheiße«, keucht Randall. Er umklammert Juniors Beine fester, und Junior wimmert leise, sagt aber nichts. »Alles ist weg«, sagt er.
    Wir stehen in unserer kleinen Gruppe zusammen und starren auf das Chaos, und dann wende ich mich ab, und wir gehen, aber Randall setzt sich als Letzter in Bewegung. Er blickt immer wieder zurück zu der Turnhalle, die dort gestanden hat und jetzt nicht mehr da ist. Stromkabel winden sich auf der schlammverstopften Straße wie lange faule Schlangen; wir springen über sie hinweg. Ohne die ganzen Bäume sieht man sofort, dass wir uns den Eisenbahnschienen nähern, denselben Schienen, auf denen die Züge fuhren, deren heiseres Pfeifen wir als Kinder gehört haben, wenn wir in der mit Austern übersäten Bucht geschwommen sind, die bis hierher vorgedrungen ist und Bois und das Hinterland von St. Catherine verschluckt und in kleinen Stückchen wieder ausgespien hat. Ein Haus steht mitten auf den Schienen. Es ist gelb, und seine Fensterscheiben hat der Sturm eingeschlagen, aber die Vorhänge sind noch da. Sie flattern schwach. Wir klettern um das Haus herum, blicken nach Osten und nach Westen die Schienen entlang und sehen etliche Häuser auf der Strecke: Sie ist eine stählerne Halskette mit Holzperlen.
    Jenseits der Bahnstrecke sind keine Holzperlen. Dort steht kein Haus mehr. Dort sind nur große Holzhaufen. Manche sind einfarbig, daran erkennen wir, dass dort mal ein Haus gestanden hat, und dort auch. Plünderer, die in den Trümmern wühlen, sind hier nicht zu sehen. Was gibt es hier zu retten? Was wurde nicht begraben oder ins Meer hinausgespült? Die Baumstämme sind rau und zersplittert, das Sperrholz von den Häusern ist rau und zersplittert, und alles ist zerbrochen. Näher am Strand, so nah, dass ich es nur sehen kann, wenn ich die Augen zusammen kneife und zum Horizont blicke, sind Eichen. Ein paar von den Eichen im Park stehen noch, andere wurden entwurzelt und liegen am Boden, haben ihre kahlen Kronen dem Ozean zugewandt. Die, die noch stehen, wirken tot. Kleine Straßen, in denen Zahnarztpraxen waren, Restaurants, wo man Wels und Maisklöße essen konnte, Tierarztpraxen, kleine düstere Buchläden und die Art von Antiquitätenläden, in die ich mich nie hineintrauen würde, aus Angst, etwas kaputt zu machen, wurden dem Erdboden gleichgemacht; das Einzige, was der Sturm übrig gelassen hat, sind Bretter und Hausverkleidungen, die wie Pfannkuchenstapel auf Betonplattentellern liegen.
    Wir erreichen das Ende der Straße. Der Hurrikan hat sogar Teile der Strandstraße weggerissen, sodass hier jetzt Klippen aus rotem Schlamm und Austernbänke sind. Die Tankstelle, der Jachtclub und all die alten Strandvillen mit den weißen Säulen, bei deren Anblick wir uns immer klein und schmutzig und ärmer denn je vorkamen, wenn wir auf unseren Badeausflügen mit Daddy hier vorbeifuhren, um zu tanken oder Chips oder Köder zu kaufen, sind weg. Nicht zerstört, nicht in Schutt und Asche gelegt, sondern ganz und gar weg. Der Hurrikan hat ein paar Stahlträger stehen lassen, die auf den Betonsockeln wie einzelne borstige Haare aussehen. Bäche strömen über die Strandautobahn. Dahinter, direkt auf dem Strand, steht ein Sofa. Ein weißhaarigerMann in einem offenen Button-Down-Hemd sitzt auf der Armlehne des Sofas und hält sich den Kopf oder reibt sich die Augen oder streicht sich das Haar glatt, und ein Hund, der im Sonnenlicht orangefarben und groß aussieht, läuft schnüffelnd um ihn herum und rennt dann plötzlich los und bellt aufgeregt, weil er etwas gefunden hat. Einen geschlossenen schwarzen Sarg. Er schnüffelt, hebt ein Bein und pinkelt.
    »Nichts mehr da«, sagt Big Henry.
    Es ist so still, wie ich es in St. Catherine noch nie erlebt habe. Es gibt nur Wind und das glatte blaugraue Wasser, das so zahm ist, dass man nicht mal das Kommen und Gehen der Wellen hört. Big Henrys Stimme trägt weit, und der Hund schaut kurz zu uns hoch, ehe er sich wieder dem Beschnüffeln seines Schatzes zuwendet.
    »Kommt«, sagt Randall.
    Big Henry und ich folgen ihm. Junior wippt auf Randalls Rücken so sanft auf und ab, als säße er bei ruhigem Wasser in einem Boot. Wir laufen auf Zehenspitzen am Rand der verwüsteten Straße entlang. Ich habe Angst, dass noch mehr davon wegrutscht. Wir steigen über eine halbe Eiche, ein Auto, das so leer ist wie eine offene Sardinenbüchse, die Reste der Neonreklame eines
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