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Vor dem Sturm (German Edition)

Vor dem Sturm (German Edition)

Titel: Vor dem Sturm (German Edition)
Autoren: Jesmyn Ward
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der Hof war, jetzt aber nur noch ein Gewirr aus Ästen, Holz, Autoteilen, Drähten und Müll ist, eine Lichtung geschlagen. Unser Haus sieht aus, als wäre es mit Schlamm gestrichen worden, ganz dunkel beschmiert. Als habe das Wasser es falsch herum gedreht. Der Nachtwind fühlt sich nur deshalb kühl an, weil er weniger heiß ist als am Tag. Miss Bernadine hat uns jedem einen großen Becher Wasser zum Waschen gegeben; duschen bedeutete, den Lappen in das Wasser zu tauchen, Seife hineinzureiben, mich in Big Henrys warmem blau gekachelten Bad, das leicht nach faulen Eiern roch, auszuziehen, am ganzen Körper einzuseifen und mich dann mit dem Wasser aus dem Becher abzuspülen. Es war himmlisch. Sie wickelte Daddys Hand aus und wusch sie, schaute sie genau an und sagte:
Sie ist ein bisschen gerötet
. Daddy hatte schon leicht lallend geantwortet:
Wird schon wer’n
. Das Abendessen bestand aus Sardinen und Wiener Würstchen, Mais aus der Dose, trockenen Fertignudeln, die wir wie Cracker aßen, Trauben und roter Limo; selbst nachdem ich das letzte Bisschen von der zuckrigen warmen Limo geschlürft und das letzte Fischöl von meinen Fingerkuppen gelutscht hatte, war ich noch hungrig. Wir fuhren zum Haus und mussten den Wagen beinahe auf den Bäumen parken, die von der Straße gezogen und am Rand des Grabens liegen gelassen worden waren.
    Skeetah muss irgendwo eine Axt gefunden haben, oder vielleicht hat er das Holz auch mit bloßen Händen klein gemacht; er sitzt mitten zwischen den umgestürzten Bäumen; sein Feuer ist groß, höher als das, auf dem wir gegrillt haben, so hoch, dass die Flammen bis über seinen Kopf lodern, ihn schwarz und so glänzend erscheinen lassen wie das Glas, das ich vorhin gefundenhabe. Er sitzt auf einem umgedrehten Eimer in dem Kreis aus Schlamm und Sand, den er gebaut hat, die Ellbogen auf die Knie gestützt, den Blick ins Feuer gerichtet. Er trägt ein paar Jeans-Shorts und Tennisschuhe, und neben ihm liegt ein Auto reifen und darauf eine Kette, die ebenso wolkig grau ist wie die Hurrikanwolken. Chinas Sachen. Er hat Chinas Sachen gefunden.
    »Wir haben dir was zu essen mitgebracht«, sage ich. Er schaut hoch, nicht überrascht, als ob er uns erwartet hat. Das Weiße in seinen Augen ist sehr weiß, und er wirkt ruhiger, als ich ihn je zuvor erlebt habe, so ruhig, als befände sich ein harter Stein in seinem Innern, in seiner Mitte: ein verwaister Betonsockel.
    »Danke«, sagt er. »Eure Schuhe.« Skeetah zeigt zu einem zweiten, kleineren Haufen, den ich noch nicht bemerkt hatte. Ein schlammiger Schuhberg, der genauso aussieht wie die Schuhstapel, die China als Welpe gemacht hat. »Ich habe sie gefunden.«
    Wir gehen den Stapel durch. Skeetah macht den Deckel einer Dose mit Wiener Würstchen auf, öffnet das Päckchen Cracker, macht sich ein kleines Sandwich und fängt an zu essen. Er kaut ganz langsam. Krümel sammeln sich in seinen Mundwinkeln, und er leckt sie ab.
    »Du solltest mit uns runterkommen«, sagt Randall und stopft einen Fuß in seinen Schuh. Junior rutscht an Randalls Seite herunter wie ein kleiner schwarzer Schatten. Ich werfe ihm seine Schuhe zu. Randall setzt sich in den Sand, und Junior macht es sich auf seinem Schoß bequem. Randall legt sein Kinn auf Juniors kahlen, schwitzenden Eierkopf.
    »Wir haben jede Menge Platz«, sagt Big Henry. Er zieht an seinem Zigarillo, und die Spitze glüht rot auf. »Du kannst bei mir im Zimmer schlafen.«
    »Wir haben uns Sorgen um dich gemacht«, sage ich, weil es sonst niemand tun wird.
    Skeetah lächelt um das Essen herum und schüttelt den Kopf.
    Er greift nach der Vanillelimonade, die wir ihm mitgebracht haben, sein Lieblingsgetränk, macht sie auf und nimmt einen Schluck.
    »Ich geh nirgendwo hin«, sagt er. Er isst ein zweites Crackersandwich. Das Fleisch riecht gut im Dunkeln; die Cracker riechen nach nichts. Alles zusammen riecht verbrannt wegen des qualmenden Feuers, das unerträglich heiß ist. Ich setze mich neben Skeetah, rutsche aber ein Stück zurück und spüre, wie die Blätter an den umgestürzten Bäumen, die noch grün und saftig sind, mich am Rücken kitzeln. »Sie ist irgendwo da draußen, und sie wird wiederkommen.«
    »Du hast St. Catherine nicht gesehen«, sagt Randall. »Sieht aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Wie im Krieg.«
    »Bois ist nicht St. Catherine.« Skeetahs Miene verfinstert sich kurz, eine dunkle Linie erscheint wie ein Schrägstrich zwischen seinen Augenbrauen, Lippen und Nase sehen aus wie
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