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Vor dem Fest

Vor dem Fest

Titel: Vor dem Fest
Autoren: Saša Stanišic
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Schilderung ihrer Frisur und der Art, wie sie Zigarre raucht, überfliegt sie nur. Über die Lobhudelei eines Bildes, an das sie sich von der Beschreibung her gar nicht erinnert, schüttelt sie den Kopf. Eigentlich liest sie nur den Schluss:
    Ana Kranz sieht sich nicht als Heimatmalerin. Verbunden zu sein mit einem Land und einer Kultur ist ihr nicht geheuer. Ihre Gemälde zeigen aber eine Heimat – unsere Uckermark. Sie zeigen unsere Erinnerungen, auch solche, von denen wir erst durch das Bild erfahren, dass wir sie haben: unsere Kindheit, die jungen Gesichter unserer Eltern und Großeltern, Arbeit und Alltag dreier Generationen im Wirbel der Zeiten. Kranz’ Gemälde sind nicht weniger als Reisen in die Vergangenheit.
    Ana Kranz ist keine Heimatmalerin. Sie ist unsere Malerin und eine Malerin vom Hier. Zu ihrem Neunzigsten wünschen wir ihr alles Gute, in tiefer Dankbarkeit für ihr Werk an unserer Heimat.
    Schmalzig, aber geht, denkt Frau Kranz. Den Rest kannst du getrost vergessen, und Geburtstag ist erst nächsten Samstag.
    Sie entwischt aus der Bäckerei mit der Ankunft der nächsten Kunden. Den Wetterwechsel erkennt Frau Kranz an ihren Gelenkschmerzen, aber vor allem am blauen Himmel. Eine alte Frau auf dem Nachhauseweg. Sie hatte sich hübsch gemacht für die Erinnerung, und es hat nichts genutzt, Erinnerung kannst du nicht betören.
    Mit dem Nachtbild ist Frau Kranz gescheitert. Für das Dorf tut es ihr ein wenig leid. Die Schwermuth und der Zieschke und das Kreativkomitee, die haben etwas Besonderes erwartet für die Auktion. Der Hirtentäschel wollte sich das Bild sogar vorher angucken, um darüber was sagen zu können. Über dieses Bild gibt es nicht viel zu sagen. Frau Kranz hatte das in Suzis schönen Augen gesehen, in Zieschkes Wimpern, die ein paar Sekunden lang nicht applaudierten.
    Sie hatte mehr malen wollen als das, was sie sah und wusste, aber sie wusste nur die sechs Frauen, und von der Nacht sah sie nur das Grau. So eine Nacht war das. Sie hatte versucht, sich vorzustellen, was das Dorf sehen würde, wenn es an ihrer Stelle stünde, und sie hatte keinen blassen Schimmer.
    Zu Hause trinkt Frau Kranz Holundersaft und putzt sich die Zähne und liegt in ihrem Bett, und neben dem Bett lehnt das Bild der Nacht, und das Bild der Nacht ist grau und öde. Sie schließt die Augen. Durch das Fenster malt die Sonne auf ihr Gesicht das, was die Sonne sieht und weiß.
    So eine Sonne scheint auch auf Frau Kranz’ Lieblingsbild. Ja, wir glauben, sie hat sehr wohl eins, obwohl sie es verneinte, als der Journalist danach fragte. Frau Kranz’ Lieblingsbild heißt:

DER RUMÄNE VOR DEM CONTAINER FÜR RUMÄNISCHE ERNTEHELFER AN DER LANDSTRASSE DRAUSSEN BEI KRAATZ.
    Die Rumänen pflücken für fünf Euro die Stunde Äpfel und Erdbeeren, ernten den Salat, stechen den Spargel. Einige kommen Jahr um Jahr wieder, man sollte meinen, Freundschaften seien entstanden mit dem Dorf. Sie essen Eis bei Manu, sie baden im Tiefen See, einer kam mal auf ein Bier zu Ulli und rezitierte vielleicht ein Gedicht auf Rumänisch, nur heiraten tun sie woanders, in ihren melodischer klingenden Städten, in Baia Mare und in Vi ş eu de Sus.
    An der Landstraße draußen vor Kraatz hat man vor ein paar Jahren Wohncontainer für sie hingestellt. Ährengelb, Herdplatte, Fenster mit weitem Blick über ihren Arbeitsplatz, die Felder. Geschätzt fünfzehn Quadratmeter, geschätzt 240 Euro, vier Betten für geschätzt sechs Personen. Rauchen verboten, alle rauchen.
    Und letztes Jahr: Neonazis aus der Gegend, bis auf unsere beiden, Rico und Luise, die hatten es verpennt. Lagerfeuer, Beisammensein, Grillen bei den Containern, Musik, Pogotanz und Vergnügen mit den wackeligen Kästen und, irgendwann in den Morgenstunden, schon auch die Polizei.
    Rumänen raus stand danach groß und schräg auf einem der Container, aber irgendwie leise, weil weiß gesprayt auf gelb und weil das Ausrufezeichen fehlte, und so hing das eine Zeitlang da, bis ein verschlafener Rumäne eines Morgens aus dem Container stieg, sich den Spruch eine Zigarette lang ansah, Tesafilm und Toilettenpapier holte und aus dem »r« in »raus« ein »H« machte und hinter »Rumänen« einen Bindestrich zog, keine Minute dauerte das, er putzte sich die Nase, setzte sich auf das Treppchen vor dem Container und aß ein Brot.
    Das ist das Lieblingsbild von Frau Kranz. Das ist Frau Kranz’ Rumäne. Ein kleiner Mann, Halbglatze, Trainingshose, Unterhemd, frühstückt vor seinem Haus,
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