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Vor dem Fest

Vor dem Fest

Titel: Vor dem Fest
Autoren: Saša Stanišic
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mal«, sagt Herr Schramm.
    Er schaltet den Fernseher aus.
    In deutschen Haushalten finden sich im Schnitt mehr Bakterien auf der Fernbedienung als auf der Klobrille. Herr Schramm denkt über »im Schnitt« nach. Es geht um die Relation. Klobrillen sind größer als Fernbedienungen. In seinem eigenen Haushalt, denkt Herr Schramm, finden sich im Schnitt mehr Enttäuschungen über ihn selbst als über die Welt.
    Mit einem Seufzen erhebt er sich vom Sofa und zieht in derselben Bewegung die Unterhose von den Knöcheln hoch. Die restliche Kleidung liegt im Bad. Er prüft, ob das Kleingeld in den Taschen für eine Schachtel reicht. Ja.
    Herr Schramm sitzt erst mal ein bisschen in seinem Golf. Ein großer Mann mit Haltung und Haltungsschaden, der nachdenkt: Im Schnitt. Martina (19, Tschechien). Die Fledermaus hängt kopfüber da, weil ihre Beine zu schwach sind. Sie kann nicht mit Anlauf losfliegen wie zum Beispiel die Gans.
    Im Handschuhfach liegt die Pistole.
    Herr Schramm hat vieles, was er heute bereut, aus eigenem Antrieb getan. Das, worin Herr Schramm gut war, war Druck. Aushalten und ausüben.
    Er fährt los. Vielleicht zum Zigarettenautomaten, vielleicht zur verlassenen Flugabwehr-Raketenabteilung 123 Wegnitz, wo er siebzehn Jahre stationiert war. Kippen oder Kopfschuss, er hat sich noch nicht entschieden.
    Martina hat vielleicht ein Talent für Fingernägel. Wie hieß das noch mal?
    In Wilfried Schramms Haushalt finden sich im Schnitt mehr Gründe gegen das Leben als gegen das Rauchen.

WIR SIND FROH , Anna wird verbrannt. Morgen Abend beim Fest wird das Urteil vollstreckt. Die Kinder werden zu den Kälbern ins Heu gelegt, aber sie schlafen nicht, sie lugen zwischen den Brettern nach dem, wovor sie im Schlaf Angst haben möchten, und wenn in den Flammen nichts mehr kocht und zischt und weint, stöpselt der Bäcker die Geige an seinen mobilen Verstärker, und dann wird gegeigt, dann wird gesungen, auf dem Grill brät Raubfisch weich. Anna wird verbrannt, und manches Paar findet sich in solch erleichterter Nacht, tanzt unter Funken und Sternen und Sicherheitsvorkehrungen, dass nichts Feuer fängt, was von Flammen keinen Nutzen hat.
    Der Herbst ist ja jetzt da. Den Äckern pflücken die Raben die Wintersaat aus dem Leib. Lassen sich auf Vogelscheuchen nieder, putzen sich das Gefieder.
    Noch ist Zeit vor dem Fest. Die Nacht muss ausgestanden werden, am Tag werden die letzten Vorbereitungen getroffen. Das Dorf kocht, das Dorf sprüht Glasreiniger, das Dorf schmückt die Laternen. Für die gute Statik des Scheiterhaufens hat lange unser Tischler gesorgt, der ist jetzt tot. Ein zugezogener Innenarchitekt aus Berlin hat sich an seiner Stelle angeboten, aber das gibt nur Probleme, wenn wir den ranlassen, das Dorf meinte schon, es geht doch nicht darum, wo ich mein Sofa hinstelle, sondern dass es nicht wieder so ein Unglück gibt wie 1599, als vier Häuser Feuer fingen und in dem Durcheinander zwei berüchtigte Räuber dem Flammentod entfliehen konnten, also macht das jetzt eine Gerüstbaufirma aus Templin.
    Das Dorf bestuhlt. Die Sitzordnung, brisantes Thema. Wer kriegt den Biertisch vorn am Scheiterhaufen? Wer hat es sich verdient, den Flammen nah zu sein? Wer definiert Verdienst in diesem Jahr?
    Das Dorf putzt die Schaufenster. Das Dorf poliert die Felgen. Das Dorf duscht. Die Fischerei geht auf den Hecht, die Bäckerei geizt nicht mit der Marmeladenfüllung. Mancher Haushalt wird sich wappnen mit einer doppelten Dosis Insulin.
    Töchter schminken Mütter, Mütter träufeln Augentropfen in die Unterlidtaschen müder Väter, Väter finden ihre Hosenträger nicht. Der Frisör würde den Umsatz seines Lebens machen, wenn es denn einen gäbe. Angeblich soll einer aus Woldegk kommen, aber wie das ablaufen soll – macht er Hausbesuche wie donnerstags der Arzt, oder baut er irgendwo zentral Stuhl und Spiegel auf? Wir wissen es nicht.
    Frau Reiff hat zum Tag der offenen Tür in ihre Töpferei geladen: Kaffee, Honigstullen, Vortrag. Die Besucher lassen sich Bierkrüge mit Raku-Technik von ihr brennen oder versuchen selbst »eine Vase«. Später gibt es im Innenhof ein Konzert afrikanischer Musik aus Stuttgart. Die Musiker sind schon angereist. Sie loben die ganze Zeit die Landschaft, als könnte das Dorf etwas dafür.
    Bäcker Zieschke wird wieder die Kunst und Kurioses Auktion leiten, letztes Jahr mit Hemd aus der Hose und einer Bierflasche als Auktionshammer. Der Erlös kommt dem Haus der Heimat zugute. Einige Gegenstände
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