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Vor dem Fest

Vor dem Fest

Titel: Vor dem Fest
Autoren: Saša Stanišic
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. Es stimmt schon, dass fast nur Männer aus den Neubauten kommen. Manchmal gibt es Stress. Nicht schlimm. Nicht Hass. Manchmal verstehst du dein eigenes Wort nicht. Im Nachhinein bist du auch froh darüber. Manchmal erzählt einer, und alle hören zu. Heute Abend, letzte Runde, wird der alte Imboden erzählen. Imboden ist sonst ein stiller, aber heftiger Trinker. Vor drei Jahren starb seine Frau, da hat er überhaupt erst angefangen. Ulli sagt, der muss jetzt die ganzen nüchternen Jahre aufholen.
    In der Garage hat man wegen des Festes morgen über die Feste früher gesprochen, und dass früher bitteschön so viel besser gefeiert wurde. Niemand konnte sich zum Beispiel an eine frische, zufriedenstellende Schlägerei erinnern unter erwachsenen Männern. Die wären früher gang und gäbe gewesen. Heute prügelt nur die Jugend. »Und zwar fies«, hat Lada gelacht, und sonst hat keiner gelacht.
    Ja, und jetzt steht der Imboden auf und geht erst mal austreten, sagt aber, bevor er den Raum verlässt – die Garage hat kein Klo, aber vor der Platte steht eine Art Baum –, er sagt: »Moment, jetzt aber. Das stimmt so nicht.«
    Seit einigen Wochen klebt ein buntes Bild auf dem Kühlschrank. Ullis Enkelin, Rike, ist in dieser Phase. Das Bild zeigt Opi und Rike in einem kleinen Rechteck, das ist die Garage. Als Ulli das Bild aufgehängt hat, hat er die nackten Polinnen abgehängt. Folgerichtig nannten die Männer Ulli ein paar Tage lang »Opi«. Dann haben sie das vergessen und nannten Ulli wieder Ulli.
    Jeder darf bei Ulli trinken, auch mehr, als er kann. Wenn aber einer nicht mehr liegen kann, ohne sich festzuhalten, und auch noch andere zu Boden ziehen will, um dies und jenes mit ihnen auszumachen, dann nickt Ulli Lada zu, und Lada begleitet oder trägt denjenigen nach draußen.
    Jeder kann bei Ulli mehr sprechen und mehr meinen als sonst wo. Wenn aber einer auch dann noch spricht und mehr meint, wenn es Ulli reicht, dann nickt Ulli Lada zu.
    Man zahlt bei Ulli weniger als woanders. Wenn aber einer nach einem Monat nicht alles gezahlt hat, dann nickt Ulli Lada zu.
    Jeder kann bei Ulli einen Witz erzählen, den nicht alle lustig finden. Wenn aber einer etwas ernst meint, das nicht alle lustig finden, dann nickt Ulli Lada zu.
    Jeder kann bei Ulli weinen, auch laut. Aber niemand weint bei Ulli.
    Jeder kann bei Ulli eine Geschichte von früher erzählen, meistens hören die anderen zu.
    Imboden ist vom Pissen zurückgekommen, und Imboden hat erzählt.

UNTER EINER BUCHE, AM RAND DES ALTEN WALDES , liegt still auf dem Laub die Fähe. Von dort, wo der Wald auf Felder trifft, Weizen, Gerste, Raps, sieht sie auf die kleine Ansammlung von Menschenbauten, die auf einem so schmalen Streifen Land zwischen zwei Seen stehen, als hätten die Menschen in ihrem unbändigen Willen, für sich das Angenehmste zu schaffen, aus einem Gewässer zwei geschnitten, um genau dazwischen, fruchtbar und praktisch an gleich zwei Ufern gelegen, Platz für sich und ihre Jungen zu haben, Platz für ihre festen Wege, die sie selten verlassen, Platz für ihre Nahrungsverstecke, ihre Steine und Metalle und die Unmengen anderer Dinge, die sie horten.
    Die Fähe ahnt die Zeit, da die Seen noch nicht existierten und keine Menschen hier ihr Revier hatten. Sie ahnt Eis, das die Erde horizontlang zu tragen hatte. Eis schob Land vor sich her, brachte Gestein, höhlte die Erde aus, hob sie zu Hügeln, die heute noch sich wellen, Zehntausende von Fuchsjahren später. In ihrem Schoß wiegen sich die zwei Gewässer, in ihrer Brust stecken die Wurzeln des alten Waldes, in dem die Fähe ihren Bau hat, einen Tunnel, nicht sehr tief, vom Dachs geborgt, mit ihren beiden Welpen jetzt darin – hoffentlich! – und nicht draußen vorwurfsvoll wartend wie letztes Mal, als sie wieder nur Käfer brachte. Der Habicht kreiste schon.
    Den erdigen Honig vom Balg ihrer Jungen würde sie unter Tausenden Aromen schmecken, auch jetzt, trotz des falschen Windes, ist sie seiner Süße in der Tiefe des Waldes gewiss. Auch des Hungers ist sie gewiss, des beständigen, strengen Hungers. Ein Junges, kränklich kams zur Welt, ist ihr schon weggestorben. Die beiden anderen stellen sich mit den Käfern geschickt an. Die Sprünge auf die Maus – aus dem Stand fast senkrecht in die Luft – sind noch zu sehr Spiel: Oft wird die Beute darüber vergessen.
    Die Fähe hebt den Kopf. Sie forscht nach den Menschen. Es sind keine nah. Aus deren Bauten steigt eine Wärme auf, die an Holz erinnert. Auch
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