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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Tom Finnek
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vorbeigerannt.
    »Das war knapp«, keuchte Celia und fasste sich an die Brust. »Danke!«
    »Gern geschehen«, sagte der junge Heilsarmist und reichte ihr die Hand. »Mein Name ist Adam. Adam Bedford. Soldat des Heils.«
    »Celia«, antwortete sie. »Celia Brooks.«
    »Freut mich«, sagte Adam und drückte kräftig ihre Hand.
    »Wir sollten schleunigst verschwinden«, meinte Celia und entzog ihm ihre Finger. »Bevor die beiden Kerle zurückkommen.«
    »Ich hab noch was vergessen«, antwortete Adam und deutete auf eine hölzerne Latrine, die sich am Rand des Hofs befand, gleich neben einem baufälligen Gebäude, dessen schiefe Fassade mit Holzbalken gestützt war.
    »Oh«, machte Celia verlegen.
    Adam lachte. »Ich meine nicht den Abort, sondern die kleine Tür dahinter. Warte hier! Ich bin gleich wieder da.« Bevor sie etwas erwidern konnte, war er zu dem baufälligen Haus gelaufen und durch die Tür verschwunden. Celia folgte ihm, öffnete die Tür einen Spaltbreit und lugte hinein. Der ekelige Gestank, der ihr entgegenschlug, kam ihr bekannt vor. Sie waren auf der Rückseite der Schänke Cloak and Dagger gelandet. Die Latrine im Hinterhof gehörte anscheinend zum Wirtshaus.
    Celia hörte Schritte aus dem Inneren, und im nächsten Augenblick stand Adam Bedford vor ihr und hielt triumphierend den Packen Handzettel in der Hand, den er nur kurz zuvor dem betrunkenen Stanley ins Gesicht geschleudert hatte.
    »Wäre schade drum gewesen«, sagte er und lachte. »Komm!«
    »Wohin?«
    »Es ist schon spät.«
    Die gleichen Worte hatte auch der Wirt in Southampton am gestrigen Abend benutzt. Celia zuckte unwillkürlich zurück und blieb stehen.
    »Möchtest du, dass ich gehe und dich allein lasse?«, fragte Adam und zeigte ihr die Innenflächen seiner Hände. »Du musst es nur sagen. Ich werde dich nicht bedrängen. Ich will nur helfen.«
    »Ich weiß nicht mehr weiter«, antwortete Celia und hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. »Ich habe mich verrannt.«
    »Du kannst mir vertrauen«, sagte er und reichte ihr eines der Flugblätter. »Ich bin ein Soldat der Heilsarmee und werde dich zu Freunden bringen.«
    Es war inzwischen viel zu dunkel, um noch irgendetwas auf dem Papier zu lesen. Celia steckte es ein und sagte: »Ich habe keine Freunde.«
    »Das ist nicht wahr«, antwortete Adam lächelnd, »du hast sie nur noch nicht kennengelernt.«

3
    Niemals hätte Celia gedacht, dass schlafende Menschen so laute Geräusche und derart üble Gerüche von sich geben konnten. Während sie reglos auf ihrem harten Bett lag und zu den schrägen Bohlen des Dachstuhls hinaufstarrte, die sie in der Finsternis an ein Spinnennetz erinnerten, machten die Frauen, die mit Celia im Schlafraum lagen, einen Lärm, als wären sie wach und wollten sich gegenseitig am Einschlafen hindern. Einige redeten im Schlaf oder stießen in unregelmäßigen Abständen wirre Rufe aus, andere wälzten sich so oft hin und her, dass die Betten knarrten und quietschten, und nicht wenige schnarchten so laut, dass man sich am liebsten die Ohren hätte zuhalten mögen. Und doch war Celia froh, hier zu sein und in einem Bett zu liegen, auf einer leidlich sauberen Matratze aus Seetang, in eine dünne Decke gehüllt und mit einem Lumpenkissen unter dem Kopf. Auch wenn das hölzerne Geviert des Bettes an einen schmucklosen Sarg erinnerte.
    Zwanzig dieser gezimmerten Kästen gab es in dem Dachraum, weitere Schlafsäle befanden sich im ersten Stock und im Erdgeschoss des Hauses. In der Dachstube standen sich jeweils zehn Holzkisten in Reih und Glied gegenüber, mit einem schmalen Mittelgang dazwischen, wie Soldaten beim Appell. Celia lag, vom Eingang aus gesehen, im hintersten und dunkelsten Winkel, direkt an der unverputzten Wand, unter dem Spruch »Bist du bereit zu sterben?«, der in Kopfhöhe in roten Lettern auf einem Schild zu lesen war. Celia erschien der Spruch seltsam unpassend, denn das Nachtasyl für Frauen in der Hanbury Street hatte es sich ja gerade zur Aufgabe gemacht, die mittellosen Frauen, die hier Unterschlupf fanden, nicht umkommen zu lassen.
    Auf dem kurzen Weg von Whitechapel zum benachbarten Spitalfields hatte Adam Bedford nur wenige Worte darüber verloren, wohin er Celia führen wollte, aber sie war ihm dennoch bereitwillig durch die ärmliche Brick Lane nach Norden gefolgt, wie ein Gänseküken der Mutter. Der junge Soldat der Heilsarmee strahlte eine derartige Gelassenheit und Zuversicht aus, dass Celia tatsächlich zu glauben anfing, sie hätte
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