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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Tom Finnek
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Mal und in Ruhe nachzudenken. Erneut waren ihre Beine schneller als ihr Verstand gewesen und hatten sie keinen Schritt vorwärtsgebracht. Es war zum Haareraufen!
    Celia stand reglos auf dem Gehweg und wurde immer wieder von Passanten angerempelt und mit ärgerlichen Kommentaren bedacht. Hinter ihr ratterte eine Pferde-Straßenbahn vorbei, die Metallbeschläge der Räder quietschten laut in den Gleisen. Ein unbeschreiblicher Gestank umgab sie. Er unterschied sich deutlich von dem beißenden Geruch der Fabriken in Southwark. Hier roch es nach den Ausdünstungen und Ausscheidungen von Mensch und Tier. Kuhfladen, Schweinedung und Pferdeäpfel lagen auf dem Pflaster. Celia vermutete, dass auf der Whitechapel Road die Viehherden aus den östlichen Dörfern in die Stadt getrieben wurden, um dort auf den Märkten verkauft zu werden.
    Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich ein monumentales Gebäude mit einer riesigen Uhr im Giebel, und über dem Eingang stand in großen Lettern: »The London Hospital«, wie Celia im Licht des Mondes erkennen konnte. Doch immer wieder ging ihr Blick zu dem verwaisten Kuriositätenkabinett, als hoffte sie, der deprimierende Anblick könnte sich auf wundersame Weise ändern.
    Eine alte Frau stellte sich neben sie, schaute ebenfalls zur Fassade des leer stehenden Hauses und sprach in einer ihr unbekannten Sprache auf sie ein. Als die Alte die Hand aufhielt und ihr entgegenstreckte, schüttelte Celia bedauernd den Kopf. Die Alte brummte irgendetwas und verschwand.
    Schließlich steckte Celia die Postkarte ein und betrat einen schmalen, nach Fäkalien und Unrat stinkenden Durchgang neben dem Haus mit der Nummer 123, der zu einem rückwärtigen, ringsum bebauten Yard führte. Dort befand sich neben einem schäbigen Wirtshaus und einem hölzernen Viehstall auch eine Pfandleihe, deren Schaufenster mit einem schweren Metallgitter gesichert war. Genau in dem Augenblick, als Celia den mit Gaslicht beleuchteten Hof betrat, kam ein Mann im schwarzen Mantel aus dem Laden und schloss die Eingangstür von außen ab. Der Pfandleiher hatte einen langen Rauschebart und trug einen seltsamen Hut auf dem Kopf, der an einen platt gedrückten Zylinder erinnerte.
    »Verzeihung, kennen Sie zufällig den ›Silver King‹?«, wandte sich Celia an den Mann, der bei der Anrede vor Schreck herumfuhr, als fürchtete er, gemeuchelt zu werden.
    »Gott im Himmel!«, entfuhr es ihm, doch bei Celias Anblick beruhigte er sich und fragte: »Welchen König?«
    »Den Silberkönig«, antwortete Celia. »Ein Kuriositätenkabinett. Es war früher mal in dem Haus an der Straße.« Sie wies zur Whitechapel Road.
    »Das Haus steht leer«, antwortete der Pfandleiher und zündete sich eine Pfeife an. »Seit Jahren schon. Keine Ahnung, wer da vorher drin war. Hab meinen Laden noch nicht so lange. Tut mir leid.«
    »Danke«, sagte Celia und senkte den Kopf.
    »Frag doch drüben im Cloak and Dagger!« Der Mann deutete auf die Schänke im hinteren Teil des Hofs und lächelte aufmunternd. »Der Wirt heißt Boyle, er führt das Haus schon seit vielen Jahren. Gut möglich, dass er was von deinem König weiß.«
    Wieder sagte Celia Danke. Doch auch als der Mann sich verabschiedet und den Hof verlassen hatte, rührte sie sich nicht vom Fleck. Das Gasthaus mit dem seltsamen Namen machte auf sie einen wenig einladenden Eindruck. Wie alles in dieser Gegend war es alt, verwittert, verwahrlost und baufällig. Zwei betrunkene schnauzbärtige Gestalten hockten aneinandergelehnt auf einer Bank vor dem Eingang und schienen ihren Rausch auszuschlafen. Ein weiterer Mann stand an einem Durchlass zwischen Schänke und Viehstall und pinkelte an die Mauer.
    Schließlich gab Celia sich einen Ruck, umklammerte ihren Koffer und ging in Richtung der Schänke. Als sie die Tür öffnete, schlug ihr ein unbeschreiblicher Gestank entgegen, es roch nach Schweiß und Erbrochenem, nach Tabakrauch und feuchtem Moder. Offenkundig war der Schankraum seit Wochen nicht gelüftet, geschweige denn gereinigt worden. Celia hielt sich das Taschentuch ihrer Mutter vor die Nase und ging zur Theke, an der ein etwa dreißigjähriger Mann und eine jüngere, aber verlebt aussehende Frau sich gerade lautstark stritten, während der Wirt ihnen zusah. Davon abgesehen war die Schänke leer, jedenfalls soweit Celia das erkennen konnte, denn der Raum war düster wie eine Gruft.
    »Sind Sie Mr. Boyle?«, wandte sich Celia an den stämmigen und groß gewachsenen Wirt, der sie
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