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Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte

Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte

Titel: Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte
Autoren: Christine Graefin von Bruehl
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hundert Stundenkilometern. Keiner muss der Erste am Ziel sein, bete ich mir leise vor, wenn ich abends gelegentlich in den Berufsverkehr gerate: Wir wollen alle nur nach Hause und dort sicher ankommen.
    Da ich an Reisefieber kranke, störte mich meine eingeschränkte Mobilität nicht im Geringsten. Sie fiel mir sogar kaum auf. Zu meinen Lesungen fuhr ich meist mit dem Zug, und die geruhsameren Autofahrten wirkten beruhigend auf meine Nerven. Da ich unterwegs gern Hörbüchern oder -spielen lausche, freute ich mich, dass ich dank der Mehrstunden, die mir meine langsame Fahrweise bescherte, endlich die Muße hatte, sie bis zum Ende zu hören. Es war ein Gewinn auf der ganzen Linie.
    Auch wenn ich zu Fuß ging, habe ich mich bemüht, mein Tempo einzuschränken. Damit ich das in der täglichen Hektik nicht vergaß, baute ich mir bewusst kleine Hindernisse und Erinnerungen in den Alltag ein. Ich achtete darauf, auf dem morgendlichen Weg ins Büro jede Gehwegplatte einzeln zu betreten. Dazu musste ich den Blick senken, genau hinschauen, und mir fiel auf, wie unterschiedlich die einzelnen Platten aussahen. Sie sind, typisch für Berlin, aus grauem, glitzerndem Granit, eine lang und schmal, die nächste fast quadratisch. Von oben wirken sie glatt und einigermaßen eben, von unten hingegen hängen unbehauene, klobige Felsklötze daran. Jede Platte ist so unermesslich schwer, dass die Straßenarbeiter, wenn ein Rohr oder ein Kabel neu verlegt werden muss, ein eigens dazu erfundenes Werkzeug zum Einsatz bringen und wenigstens zu zweit sein müssen, um sie auch nur millimeterweise fortbewegen zu können. Von zwei Seiten packen sie den Stein mit einer überdimensionalen |37| Eisenzange, stemmen ihn aus dem Boden und hieven ihn dann unter dem Einsatz der gesamten Körperkraft schrittweise zur Seite. Dort legen sie ihn vorsichtig ab.
    Warum hat Berlin ein so tonnenschweres Pflaster? Die Granitplatten stammen aus Schweden. Sie waren das Ausgleichsgewicht für die Schiffe, die im 18. Jahrhundert Getreide in den Norden transportierten und leer über die Nord- und Ostsee zurückkehrten. Sicher und wohlbehalten im heimatlichen Hafen angekommen, wurden die schweren Steine abgeladen und die Schiffe wieder neu mit Roggen oder Weizen gefüllt. Die Steine waren praktisch ein Abfallprodukt und fanden in Form von Gehwegplatten eine sinnvolle Weiterverwendung. Nicht nur Berlins Bürgersteige wurden damit gepflastert, auch andere Orte und Städte im ehemals preußischen Umland erfreuen sich bis heute derart trittfester Wege – ein Zeichen für den schwunghaften Getreidehandel mit Skandinavien vor über zweihundert Jahren.
    Mit den Jahren haben sich die Platten unterschiedlich stark abgesenkt. Der Kanten, über die man stolpern kann, gibt es viele. Ich wusste, dass zwei Straßen weiter ganze Gehwegabschnitte gesperrt wurden, weil die Pflastersteine neu ausgerichtet werden mussten. Das gehört offensichtlich zum Berliner Alltag: Absperrungen und Umleitungen, nur weil jede Platte angehoben, mit Sand und Kies unterfüttert und wieder korrekt abgelegt, also der Gehweg begradigt werden muss. Wären die Platten von anderer Beschaffenheit gewesen, hätten sie sich womöglich nicht in so eigenwilliger Manier abgesenkt. Mir gefiel diese Unordentlichkeit. Ich begann, die Berliner Pflastersteine zu mögen.
    |38| Für solche Beobachtungen hatte ich bei der Hast, mit der ich mich zuvor bewegt hatte, keine Muße. Auch das Mietshaus, in dem mein Büro ist, nahm ich nun erstmals richtig wahr. Früher befand sich hier eine Toreinfahrt, die Kutscher lenkten ihren Pferdewagen darauf zu und über die gesamte Breite des Vorderhauses hindurch bis in den Hinterhof. Entsprechend breit ist das Tor, in das die Eingangstür eingelassen ist. Es ist fest gezimmert aus dickem Holz, reliefverziert und tannengrün gestrichen. Sobald ich drin bin, kann ich die alten Steine riechen, mit denen die Einfahrt gepflastert wurde. Weit wölbt sich in makellosem Rundbogen der breite Torbau über meinem Kopf. Die Wände sind cremeweiß gekalkt. Damit es nicht so laut schallte, wenn die eisenbeschlagenen Räder über die Steine rumpelten, war der Boden entlang der Wagenspur einst durch Holzblöcke ersetzt worden. Der Geruch im Durchgang zum Hinterhof erinnerte mich an das Eingangsportal im Schloss meiner Großmutter im Allgäu, in dem ich als Kind regelmäßig die Sommerferien verbrachte. Ich erinnere mich noch ganz genau, wie wir quer über den mit Kies bestreuten Vorplatz durch sengende
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