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Von der Nacht verzaubert

Titel: Von der Nacht verzaubert
Autoren: Amy Plum
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bringen.
    Er zog seinen Arm zurück, sodass ich ins Leere griff. »Wie jetzt?«, fragte er amüsiert. »Warum bist du sauer auf mich ? Ich hab sie schließlich nicht geklaut.«
    »Nein, natürlich nicht«, schnaufte ich abwartend.
    »Also ...«, sagte er.
    »Also ... Wenn es für dich in Ordnung wäre, würde ich meine Tasche dann jetzt mitnehmen«, sagte ich, streckte noch einmal meine Hand aus und bekam diesmal die Riemen zu fassen. Aber er ließ nicht los.
    »Wie wär’s mit einem kleinen Handel?«, bot er mir an, während ein Lächeln seinen Mund umspielte. »Ich geb dir deine Tasche, wenn du mir deinen Namen verrätst.«
    Ich starrte ihn ungläubig an und zog dann ruckartig an meiner Tasche — gerade als er losließ. Ihr Inhalt entleerte sich komplett auf den Bürgersteig. Fassungslos schüttelte ich den Kopf. »Super. Vielen Dank auch!«
    So elegant wie eben möglich kniete ich mich hin und stopfte Lippenstift, Wimperntusche, Portemonnaie, Telefon und eine gefühlte Million Stifte und Papierschnipsel dahin zurück, wo sie hergekommen waren. Als ich aufschaute, musterte er mein Buch.
    »Wer die Nachtigall stört. Auf Englisch!«, bemerkte er und klang überrascht. Und dann sagte er in einem mit leichtem Akzent versehenen, aber sonst makellosen Englisch: »Tolles Buch. Hast du mal den Film gesehen ... Kate?«
    Mir fiel die Kinnlade runter. »Wie ... Woher weißt du, wie ich heiße?«, war alles, was ich hervorbrachte.
    Er zeigte mir seine andere Hand, in der er meinen Führerschein hielt — den ein außerordentlich schlechtes Passfoto von mir zierte. Ich fühlte mich dermaßen gedemütigt, dass ich ihm nicht mal mehr in die Augen sehen konnte, obwohl ich spürte, wie sein Blick auf mir brannte.
    »Hör mal«, sagte er und lehnte sich leicht vor. »Es tut mir wirklich leid. Das wollte ich nicht.«
    »Jetzt hör endlich auf, mit deinen Fremdsprachenkenntnissen rumzuprahlen, Vincent. Hilf dem Mädchen auf die Füße und lass sie gehen«, hörte ich eine andere Stimme auf Französisch sagen. Ich drehte mich zu dem Freund meines Peinigers um, der mir gerade meine Haarbürste entgegenstreckte — es war der Typ mit den Locken und dem Dreitagebart. Ein leicht amüsierter Ausdruck lag auf seinem Gesicht.
    Die Hand ignorierend, die »Vincent« mir hinhielt, um mir aufzuhelfen, kam ich auf die Beine und klopfte meine Klamotten ab. »Bitte schön«, sagte er und gab mir mein Buch.
    Ich nahm es mit einem ziemlich verlegenen Nicken entgegen. »Danke«, sagte ich knapp und versuchte, nicht zu rennen, als ich so schnell wie möglich das Café verließ und auf die Straße trat. Während ich darauf wartete, dass die Ampel Grün wurde, machte ich den Fehler, einen flüchtigen Blick zurückzuwerfen. Beide starrten in meine Richtung. Vincents Begleiter sagte etwas zu ihm und schüttelte den Kopf. Ich kann mir lebhaft vorstellen, was die zwei gerade über mich sagen , dachte ich und stöhnte.
    Mein Gesicht wurde so rot wie die Ampel. Als sie endlich umschaltete, überquerte ich die Straße, ohne mich noch einmal umzusehen.
    In den nächsten Tagen tauchte Vincents Gesicht überall auf. Im Lebensmittelgeschäft an der Ecke, auf der Treppe zur Metro, auf der Terrasse jedes einzelnen Cafés, an dem ich vorüberging. Natürlich nur auf den ersten Blick, beim zweiten Blick stellte ich fest, dass er es nie wirklich war. Zu meinem großen Ärger konnte ich nicht aufhören, an ihn zu denken. Noch ärgerlicher war nur, dass sich meine Gefühle zu gleichen Teilen aus selbstschützender Vorsicht und unerschrockener Schwärmerei zusammensetzten.
    Aber, um ehrlich zu sein, war ich ganz dankbar für die Zerstreuung. Endlich beschäftigte mich etwas anderes als tödliche Autounfälle und die Frage danach, was ich mit dem Rest meines Lebens anfangen würde. Vor dem Unfall war ich mir einigermaßen sicher gewesen, was ich wollte, doch nun lag meine Zukunft wie ein gigantisches Fragezeichen vor mir. Irgendwann kam mir der Gedanke, dass meine Begeisterung für den »geheimnisvollen Fremden« vielleicht einfach nur eine Taktik meines Verstands war, um mir eine Verschnaufpause von all der Verwirrung und Trauer zu verschaffen. Wenn das wirklich so war, entschied ich, würde es mir auch nichts ausmachen.
    Seit dem Zwischenfall mit Vincent im Café Sainte-Lucie war fast eine Woche vergangen. Obwohl ich es mir zur Angewohnheit gemacht hatte, täglich dort zu lesen, waren weder er noch einer seiner Freunde in der Zwischenzeit dort aufgetaucht. Ich saß wie
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