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Von der Nacht verzaubert

Titel: Von der Nacht verzaubert
Autoren: Amy Plum
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war es nicht meine Absicht, sie mit diesen Geschichten zu beeindrucken. Ich wusste, dass sie sich Sorgen um mich machten, deshalb wollte ich ihnen nur versichern, dass es mir gut ging. Doch immer, wenn ich so eine Mail abgeschickt hatte und sie danach noch einmal las, merkte ich, wie unendlich breit die Kluft zwischen diesem für sie erfundenen und meinem wirklichen Leben war. Und das deprimierte mich dann nur noch mehr.
    Schließlich wurde mir bewusst, dass ich keine Lust mehr hatte, überhaupt noch mit irgendjemandem zu reden. Eines Abends, nachdem meine Finger fünfzehn Minuten auf den Tasten geruht hatten, während ich verzweifelt überlegte, was ich meiner Freundin Claudia Tolles schreiben könnte, schloss ich das Nachrichtenfeld und löschte nach einem tiefen Atemzug für immer und ewig meine E-Mail-Adresse. Googlemail fragte, ob ich mir sicher sei. »Und wie«, sagte ich, als ich auf den roten Button klickte. Eine Last fiel von mir ab. Ich verstaute den Laptop in der Schreibtischschublade und holte ihn erst wieder hervor, als die Schule anfing.
    Anfangs versuchten Mamie und Georgia noch, mich dazu zu bewegen, wenigstens hin und wieder mal vor die Tür zu gehen. Meine Schwester fragte, ob ich sie und ihre Freunde zu einer Strandbar am Fluss begleiten wolle. Oder zu Konzerten oder in Klubs, wo sie die Wochenenden durchtanzten. Aber irgendwann gaben sie auf.
    »Wie kannst du nur tanzen gehen, nach allem, was passiert ist?«, fragte ich Georgia einmal, als sie auf dem Fußboden in ihrem Zimmer saß und sich vor einem vergoldeten Rokokospiegel schminkte, den sie von der Wand genommen und gegen ein Bücherregal gelehnt hatte.
    Meine Schwester war furchtbar schön. Ihre rotblonden Haare waren zu einem kurzen Pixie-Cut geschnitten, den nur jemand mit ihren hohen Wangenknochen tragen konnte. Kleine Sommersprossen zierten ihre weiche Pfirsichhaut. Genau wie ich war sie groß gewachsen, aber im Gegensatz zu mir hatte sie eine fantastische Figur — für ihre Rundungen würde ich sterben. Sie sah nicht aus wie fast achtzehn, sondern wie einundzwanzig.
    Georgia warf mir einen kurzen Blick zu. »Weil ich nur so vergessen kann«, sagte sie, während sie ihre Wimpern nachtuschte. »Weil ich mich nur dann lebendig fühle. Ich bin genauso traurig wie du, Katie-Bean. Aber anders werde ich damit nicht fertig.«
    Ich wusste, dass das stimmte. In den Nächten, in denen sie nicht ausging, hörte ich sie in ihrem Zimmer schluchzen, als wäre ihr Herz gebrochen.
    »Und dir tut es auch nicht gut, Trübsal zu blasen«, fuhr sie mit sanfter Stimme fort. »Du solltest unter Menschen gehen. Um dich abzulenken. Sieh dich mal an«, sagte sie, legte ihre Wimperntusche beiseite und zog mich zu sich. Sie drehte meinen Kopf so, dass mein Gesicht neben ihrem im Spiegel auftauchte.
    Wer uns zusammen sieht, käme nie auf die Idee, dass wir Geschwister sind. Meine langen braunen Haare hingen an diesem Tag schlaff herunter. Meine Haut, die dank der Gene meiner Mutter niemals Farbe annimmt, war noch blasser als gewöhnlich. Meine graublauen Augen waren ganz anders als die sinnlichen »Schlafzimmeraugen« meiner Schwester. »Mandelaugen« hatte meine Mutter sie zu meinem großen Kummer immer genannt. Ich hätte lieber Augen, bei denen man an heiße Nächte denkt, als welche, die an eine Nuss erinnern.
    »Du bist wunderhübsch«, stellte Georgia fest. Meine Schwester, mein einziger Fan.
    »Sag das den Verehrern, die draußen Schlange stehen.« Ich verzog das Gesicht und setzte mich zurück aufs Bett.
    »Na, wenn man die ganze Zeit allein unterwegs ist, findet man auch keinen Verehrer. Wenn du nicht mal was anderes machst, als ständig nur in Museen und Kinos rumzuhängen, siehst du bald aus wie eine deiner Romanheldinnen aus dem achtzehnten Jahrhundert, die von Tuberkulose oder Wassersucht oder so was dahingerafft worden sind.« Sie blickte mir in die Augen. »Hör zu, ich werde dich nie wieder fragen, ob du mit mir ausgehst, wenn du mir nur einen einzigen Wunsch erfüllst.«
    »Man nennt mich ja bekanntlich auch ›Die gute Fee‹«, sagte ich und versuchte zu grinsen.
    »Schnapp dir deine verdammten Bücher und setz dich damit in ein Café. Ins Sonnenlicht. Meinetwegen auch ins Mondlicht, mir egal. Hauptsache, du verlässt das Haus und es kommt mal wieder ein bisschen gute alte, schmutzige Stadtluft in deine schwindsüchtigen Lungen. Triff mal wieder ein paar Menschen, verdammt noch mal.«
    »Aber ich treffe doch Menschen ...«, fing ich
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