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Von der Nacht verzaubert

Titel: Von der Nacht verzaubert
Autoren: Amy Plum
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Unten vor der Haustür blieben wir kurz stehen, zogen unsere Schuhe an und traten dann hinaus auf die Straße.
    Der Vollmond stand am Pariser Nachthimmel und tauchte die Straßen in ein silbernes Licht. Ohne uns abzusprechen, schlugen wir beide den Weg zum Fluss ein. Seit wir als Kinder unsere Sommer hier verbrachten, hatte der Fluss im Mittelpunkt unserer Aktivitäten gestanden, und so fanden unsere Füße den Weg von selbst.
    An der Seine angekommen, gingen wir die Steinstufen hinunter zur Uferpromenade, die Paris über mehrere Kilometer säumt, und schlenderten in östlicher Richtung über das grobe Kopfsteinpflaster. Am anderen Ufer thronte das massive Gebäude des Louvre.
    Außer uns war niemand unterwegs, weder auf der Promenade noch oben auf der Straße. Abgesehen von kleinen Wellen, die gegen die Uferbefestigung plätscherten, und dem einen oder anderen vorbeifahrenden Auto war kein Geräusch zu hören. Wir waren eine Weile schweigend nebeneinander hergelaufen, als Georgia plötzlich stehen blieb und nach meinem Arm griff.
    »Sieh mal«, flüsterte sie erschrocken und zeigte auf die Pont du Carrousel, die Brücke, die unseren Weg vielleicht fünfzehn Meter vor uns kreuzte. Ein Mädchen, vermutlich in unserem Alter, balancierte auf der breiten steinernen Brüstung, gefährlich nah am Rand. »Mein Gott, die will sich umbringen«, hauchte Georgia.
    Meine Gedanken überschlugen sich, während ich überlegte, wie tief sie fallen würde. »Die Brücke ist nicht hoch genug, ein Sprung wird sie nicht umbringen.«
    »Das kommt darauf an, wie tief das Wasser ist. Oder was darunterliegt. Sie steht noch ziemlich nah am Ufer.«
    Wir waren zu weit weg, um ihren Gesichtsausdruck sehen zu können, aber sie hatte ihre Arme um sich geschlungen und blickte in die kalten, dunklen Wellen hinunter.
    Noch während wir wie gebannt auf das Mädchen starrten, wurde unsere Aufmerksamkeit auf den Tunnel unter der Brücke gelenkt. Schon bei Tag war er total unheimlich und wenn es kalt war, schliefen dort oft Obdachlose. Bisher war ich noch nie jemandem begegnet, wenn ich so schnell ich konnte durch die faulig riechende Passage lief, um auf der anderen Seite wieder in die Sonne zu treten. Aber die dreckigen Matratzen und provisorischen Trennwände aus Karton ließen keinen Zweifel daran, dass dieser Tunnel für ein paar bedauernswerte Seelen zu den Topimmobilien von Paris zählte. Und heute drangen aus dieser fremdartigen Dunkelheit Geräusche von Handgreiflichkeiten.
    In dem Moment lenkte eine Bewegung unseren Blick zurück zur Brücke. Das Mädchen stand noch immer unbeweglich dort, aber ein Mann näherte sich ihr. Er ging langsam und vorsichtig, als wolle er sie nicht erschrecken. Er hob einen Arm und bot dem Mädchen eine Hand an. Trotz der Entfernung drang seine Stimme leise an mein Ohr — er wollte sie überreden, von der Brüstung zu klettern.
    Das Mädchen wirbelte herum, um ihn anzusehen. Der Mann hielt ihr jetzt auch noch seine andere Hand hin und, beide Arme nach ihr ausgestreckt, flehte er sie an, von der Brückenkante wegzutreten. Sie schüttelte den Kopf. Er machte noch einen Schritt auf sie zu. Sie schlang ihre Arme fester um sich und sprang.
    Eigentlich war es kein Sprung, sie ließ sich eher fallen. Als würde sie ihren Körper der Schwerkraft opfern, damit diese damit anstellte, was sie wollte. Sie fiel vornüber, ihr Kopf traf wenige Sekunden später auf die Wasseroberfläche.
    Etwas zog an meinem Arm, es war Georgia. Wir klammerten uns aneinander, während wir diesem gruseligen Szenario zusahen. »Oh, mein Gott. Oh, mein Gott. Oh, mein Gott«, skandierte Georgia atemlos.
    Ich starrte auf die mondbeleuchtete Wasseroberfläche und wartete auf ein Zeichen des Mädchens, als ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung auf der Brücke wahrnahm. Jetzt war der Mann auf die Brüstung geklettert, breitete seine Arme aus, sodass seine Silhouette an ein Kreuz erinnerte, und sprang kraftvoll ab. Die Zeit stand still, während er wie ein riesiger Greifvogel zwischen der Brücke und der schwarzen Wasseroberfläche schwebte.
    Für den Bruchteil einer Sekunde fiel das Licht einer nahe gelegenen Straßenlaterne auf sein Gesicht. Ich kannte ihn. Es war der Schwarzhaarige aus dem Café Sainte-Lucie.
    Was um alles in der Welt trieb ihn bloß dazu, auf ein Mädchen einzureden, um sie von ihrem Selbstmord abzubringen? Kannte er sie? Oder war er einfach nur ein Passant, der genügend Verantwortungsgefühl besaß?
    Sein Körper tauchte elegant
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