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Vom Himmel das Helle

Vom Himmel das Helle

Titel: Vom Himmel das Helle
Autoren: Gabriele Diechler
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polizeilichen Gewahrsam genommen hatte, um alles, absolut alles aus ihnen herauszupressen wie aus reifen Zitronen, sah ich alles noch einmal vor mir.
    Den Erhängten, der einen Erstickungstod gestorben war. Das Segeltau hatte ihm die Zungenwurzel gegen die hintere Rachenwand gepresst und die Luftwege verlegt. Sendepause. Die großen Venenstämme des Halses waren viel zu fest gedrückt worden und hatten den Abfluss des Bluts aus dem Gehirn verhindert und schließlich sogar den Blutkreislauf im Gehirn schachmatt gesetzt. Die Strangulationsmarke hätte ich bei genauem Hinsehen erahnt, vermutlich war sie bräunlich verfärbt. Doch ich hatte vorhin viel zu ungenau hingeschaut auf das blaurote, gedunsene Gesicht, die glänzenden Augen, die gespannte Hornhaut, die zwischen den Lippen hervorlugende Zunge, zwischen den Zähnen eingeklemmt. Sicherlich hatte Bogdan Ivanovic im Moment des Erhängens einen Urinabfluss aus der Harnröhre oder einen unwillkürlichen Kotabgang aus dem Mastdarm erlitten. Da war ich mir sicher.
    Wenn ich schon nichts Rechtes gesehen oder das Bild überlagert hatte, so musste ich doch wenigstens etwas gerochen haben. Einen sich ausbreitenden fürchterlichen Gestank. Schließlich war ich unter und neben ihm gelegen und hatte dort eine ganze Weile kauernd verharrt.
    In der Gerichtsmedizin würde man das Gehirn und die Lunge strotzend vor dunkelrotem, flüssigem Blut finden, die rechte Herzkammer ausgedehnt wie die weiten Hügel der Toskana und die linke leer, so leer wie die flache Ebene nach einem über sie hinweggefegten Sturm. Kleine Blutergüsse im Gehirn, unter dem Lungenfell, an anderen Orten, der ganze gewöhnliche Mist, der beim Suizid dazugehörte. Ich fuhr mir mit der Hand über die Augen und schluckte laut meinen Speichel hinunter.
    Man würde mich vermutlich morgen gleich in der Früh befragen, ob ich die Vermutung hege, der Erhängte sei am Ende ein bereits Gestorbener gewesen. Von Almut Lohmann erst aufgehängt, nachdem er bereits getötet worden war. Und ich würde dem Gerichtsmediziner antworten: »Es ist vermutlich anders gelaufen. Sie hat ihn ermordet und lässt es wie Selbstmord aussehen, denn er war ihr Keller-Toy-Boy.«
    Die Liebe war Almut weder bei ihrem Mann noch bei ihrem Liebhaber je bekannt vorgekommen, außer vielleicht als abstrakter Begriff, als heimliches Sehnen und schließlich die Inbesitznahme eines erträumten Zustands, den alle zu kennen glauben und es doch nicht tun. Almut war bereits als Schülerin auf der Suche nach Spektakulärem gewesen. Nichts war ihr gut genug gewesen. Sie hatte nie die Bereitschaft gezeigt, zu akzeptieren, dass man das Glück nicht in die Knie zwingen konnte. Sie war eine Träumerin gewesen. Große Träume, die uns andere schon beim Hinhören verschreckt, aber auch gehörig fasziniert hatten.
    Wahrscheinlich würde sie auch Frank gegenüber behaupten, sie sei von Bogdan dazu gezwungen worden, ihm das Chloroform zu verabreichen. Nachdem er zum Selbstmord entschlossen gewesen sei. Ich wusste, dass sie sich über den Nachweis eines echten Selbstmords zur Genüge informiert hatte, und wahrscheinlich würden Frank und ich ihr nichts nachweisen können.
    Ich hätte Almut gern gesagt, dass Suchen nichts nützte und dass man lediglich warten können musste und dass es die Liebe gab. Vielleicht hätte sie mich gefragt: »Warum sagst du mir das alles ausgerechnet jetzt? Wo es zu spät ist?« Mir war in den letzten Tagen klar geworden, dass Almut im Grunde ein verschrecktes Reh war, das allein und ungeschützt im Lichtkegel stand und nicht wusste, wo der Weg zurück in den Schutz des Waldes war. Deshalb hätte ich ihr noch etwas mit auf den Weg gegeben: »Es ist nie zu spät, Almut. Selbst dann nicht, wenn du es glaubst.«
    Frank und jemand von der Spurensicherung kamen auf mich zu, nachdem sie im Keller die Leiche und den Tatort inspiziert hatten.
    Ich riss mich aus meinen Gedanken und stand auf, während das Gerede der anderen zu leisem Flüstern verstummte. Ich sah, dass Frank dabei war, mich mit wenigen, gut geplanten Gesten vor sich herzuschieben, er die Lokomotive, ich der daran gekoppelte Waggon. Er bugsierte mich erneut in die Küche, den Ort meiner letzten seltsamen Beschaulichkeit.
    »Wieso hast du die Schlinge nicht gelöst und die künstliche Atmung eingeleitet? Abwechselnd Bauch und Brust zusammenpressen und die Arme rhythmisch vor und rückwärts bewegen, du erinnerst dich doch daran?«, fragte er. Es klang zwar ironisch, aber ich hörte die
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