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Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder

Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder

Titel: Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
Autoren: Karl-Heinz Paqué
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Führungsposition einzunehmen, so unter anderem Elektrotechnik, Chemie, Metallverarbeitung und gegen Ende auch schon die Fahrzeugherstellung.
    Mit dem Wilhelminischen Boom änderte sich die Lage am Arbeitsmarkt in kurzer Zeit radikal. Schon ab etwa 1895 deuten alle Indikatoren auf Vollbeschäftigung hin, unterbrochen nur durch eine kurze und scharfe, aber schnell überwundene Rezession im Jahr 1901 und eine – statistisch kaum merkliche – Abschwächung im Jahr 1907. Die Auswanderung nahm rapide ab und kam seit der Jahrhundertwende praktisch zum Erliegen; sie wurde durch eine Zuwanderung abgelöst, vor allem von polnischen Arbeitern, die in die westlichen Industrieregionen Deutschlands strömten. Auch innerhalb Deutschlands gab es massive Wanderungsströme, vor allem von den agrarisch geprägten östlichen Gebieten Preußens in die Industriezentren von West- und Mitteldeutschland sowie nach Berlin, Sachsen und Schlesien.
    Auch die Entwicklung der Industrielöhne spiegelte die neue Lage wider, wenn auch in eher gemäßigter Form. Sie stiegen im Zeitraum 1895 bis 1913 im Jahresdurchschnitt nominal um immerhin 2,6 Prozent, was bei deutlich beschleunigter Preisinflation (1,4 Prozent p. a.) einem Reallohnanstieg von 1,2 Prozent p. a. entsprach. Dass trotz Vollbeschäftigung der Preis der Arbeit nicht noch stärker in die Höhe schoss, hing wohl mit dem Ausmaß an Binnen- und Zuwanderung zusammen. Dieses sorgte dafür, dass die Produktion doch recht elastisch auf die entstehenden Kapazitätsengpässe reagierte. Immerhin stieg in nur 18 Jahren die Zahl der Beschäftigten gesamtwirtschaftlich um fast ein Drittel, in der Industrie sogar um 44 Prozent. Deutschland wurde in dieser Zeit so etwas wie ein zweites Amerika, mitten in Europa.
    Es folgte der Erste Weltkrieg. Er hinterließ einen grundlegend veränderten Arbeitsmarkt, mit dem die Weimarer Republik unter völlig neuen politischen Bedingungen umzugehen hatte. Es ist die vierte Wechsellage seit der Industrialisierung Deutschlands, eine Zeit durchweg hoher Arbeitslosigkeit, völlig anders als die vorangegangene Phase des Wilhelminischen Booms. Es ist auch die erste Wechsellage, für die wir über seriöse Berechnungen von Arbeitslosenquoten der Industriebeschäftigten verfügen, die im Nachhinein von Wirtschaftshistorikern vorgelegt wurden. Schaubild   3 zeigt diese für die gesamte Zwischenkriegszeit. 15 Als Erstes fallen die ungeheuer starken Sprünge der Arbeitslosenquoten ins Auge. Sie hängen natürlich mit der hohen Dramatik der politischen Veränderung in der Zwischenkriegszeit zusammen. Dabei sind die Quoten der Frühphase bis 1922 nicht sehr aussagekräftig: Es war die Phase beschleunigter Preissteigerungen, die schließlich in der Hyperinflation von 1922/23 mündeten – eine absurde Zeit der Misswirtschaft, in der die Löhne, die morgens gezahlt wurden, bereits am Abend praktisch wertlos waren. Entsprechend lässig waren das Einstellungsverhalten der Arbeitgeber und die Arbeitsmoral der Arbeitnehmer. Erst nach der Währungsreform des Kanzlers Stresemann im Herbst 1923 kann man von einem funktionierenden Arbeitsmarkt sprechen, aber dies nur bis 1932, weil ab 1933 die Nationalsozialisten durch Zwangsmaßnahmen bis hin zu Dienstpflichten in den Arbeitsmarkt eingriffen und – zusammen mit forcierter Aufrüstung – die Arbeitslosigkeit durch eine Art Kommandowirtschaft „beseitigten“.
    Es bleibt als „normale“ Zeitspanne nur die kurze Phase von 1924 bis 1932. Sie zeigt selbst vor Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 eine hohe und stark schwankende Arbeitslosigkeit, die lediglich in drei Jahren unter neun Prozent sank, in zwei davon recht knapp; und ab 1929 rutschte Deutschland in die Weltwirtschaftskrise mit seither nicht mehr erreichten Arbeitslosenquoten in dramatischer Höhe. Die Botschaft von Schaubild 3 ist klar: Vollbeschäftigung blieb in der Weimarer Republik ein Traum, selbst in der relativ stabilen Phase der sogenannten Stresemann-Zeit; chronische Unterbeschäftigung war die harte Normalität, und sie war zudem überlagert von massiven Konjunktureinbrüchen. Bis heute ist dies ein Bild des Schreckens, zumal es schließlich in hohem Maße zur Zerstörung der Demokratie beitrug, worüber sich Historiker einig sind. 16

    Aus der volkswirtschaftlichen Vogelperspektive bleibt vor allem der Eindruck einer überaus scharfen Zäsur zwischen dem Wilhelminischen Boom und der Wirtschaftsschwäche der Weimarer Republik, die erst neun Jahre nach dem Ende
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