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Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder

Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder

Titel: Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
Autoren: Karl-Heinz Paqué
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verblasst, zumal es anscheinend auch aus einer ganz anderen Welt stammt, einer Art fernem Nirwana der Vollbeschäftigung – längst vergangen, verloren und für das moderne Deutschland der chronischen Arbeitslosigkeit ohne Aussagekraft. Hier macht sich die Prägung einer ganzen Generation bemerkbar; die hat – wie der Autor dieser Zeilen – in der Zeit ihres Berufslebens bisher niemals den Zustand der gesamtwirtschaftlichen Vollbeschäftigung kennengelernt.
    Es ist die Generation der „73er“, um die es hier geht. Sie ist geprägt durch die Massenarbeitslosigkeit, die ab 1973 im Gefolge der ersten Ölkrise entstand und dann nie mehr verschwand. Mit Ausnahme der Wirtschaftshistoriker haben praktisch alle Mitglieder dieser Generation – ob Experten oder nicht – die Zeit bis 1973 aus ihrem Gedächtnis gestrichen beziehungsweise nie wirklich zur Kenntnis genommen. Die 73er dominieren seit einigen Jahren die Ausrichtung der Politik, die Botschaften des wirtschaftswissenschaftlichen Rats und den Tenor der journalistischen Beobachtung. Dies ist ganz natürlich, da die Generation davor – die sprichwörtlichen „68er“, aber auch die noch älteren „Vor-68er“ – das Pensionsalter bereits erreicht haben oder in Kürze erreichen werden. Ihre Erinnerung spielt in der Meinungsbildung deswegen kaum noch eine Rolle, ganz anders, als dies noch bis in die 1990er-Jahre der Fall war.
    Dieses Buch ist ein Versuch, aus dem festgefahrenen Denkschema der 73er auszubrechen, und zwar radikal. Es ist die zentrale These des Buches, dass wir in Deutschland mitten in einem grundlegenden Wandel des Arbeitsmarktes stehen: von der säkularen Arbeitslosigkeit zur Vollbeschäftigung, vom Käufer- zum Verkäufermarkt, vom chronischen Mangel an Arbeits plätzen zum chronischen Mangel an Arbeits kräften . Der Rest des Buches behandelt die tieferen Ursachen und die weitreichenden Folgen dieser Entwicklung. Dazu werfen wir zunächst einen Blick auf die großen Veränderungen am Arbeitsmarkt in der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Wir tun dies aus der volkswirtschaftlichen Vogelperspektive, ohne uns in Details zu verstricken. Es geht um das grobe Bild und was wir aus ihm für die Diagnose der heutigen Situation lernen können.
1.2   Historische Wechsellagen
    Große Veränderungen der Lage am Arbeitsmarkt sind selten. Dies mag auf den ersten Blick überraschen, weil wir heutzutage monatlich mit neuen Pegelständen der Erwerbslosigkeit konfrontiert werden. Aber die meisten Veränderungen, die sich dabei zeigen, sind eher kurzfristiger Art. Die regelmäßigen Schwankungen im Saisonverlauf sowie die unregelmäßigen, aber doch stets wiederkehrenden Bewegungen der Konjunktur vermitteln den Eindruck, dass ständig dramatische Dinge passieren. Dieser Eindruck täuscht. Ein Blick auf die deutsche Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass es eigentlich nur ganz wenige Wechsellagen 7 des Arbeitsmarktes gegeben hat, die über lange Zeiträume anhielten. Bis auf kurze Übergangsphasen fallen sie eindeutig in eine von zwei Kategorien: absolute Vollbeschäftigung oder chronische Unterbeschäftigung.
    Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute lassen sich nicht mehr als sechs solcher Wechsellagen unterscheiden. Die erste fällt noch weitgehend in die Zeit vor der Gründung des Deutschen Reiches 1871. Sie ist gekennzeichnet durch die erste große Welle der Industrialisierung, getrieben vor allem vom Eisenbahnbau, der schon vor der Revolution von 1848 in großem Stil einsetzte und ab Mitte der 1850er-Jahre ganz Deutschland ergriff, vor allem natürlich die künftigen Zentren der Eisen- und Stahlindustrie sowie des Maschinenbaus, also das Königreich Sachsen sowie große Teile Preußens, von Westfalen, dem Rheinland und dem Saargebiet bis zum Großraum Berlin, der Provinz Sachsen und Schlesien. Die gesamtwirtschaftliche Produktion stieg im Zeitraum 1855 bis 1875 um 83 Prozent, was einer Wachstumsrate von 3,1 Prozent p. a. entspricht. 8 Wirtschaftlich also eine überaus erfolgreiche Zeit.
    Und eine Zeit niedriger Arbeitslosigkeit. Zumindest ist dies der Eindruck, der sich ohne moderne Statistik der Unterbeschäftigung aufgrund einer Vielzahl anderer historischer Indikatoren aufdrängt. Von Mitte der 1850er- bis Mitte der 1870er-Jahre wuchs die industrielle Produktion fast durchgängig, unterbrochen nur von zwei sehr kurzen Konjunkturkrisen um 1857 und 1866. Nach beiden Einbrüchen gab es kräftige Expansionsphasen, deren letzte vor und nach der Reichsgründung
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