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Vogelfrei

Titel: Vogelfrei
Autoren: Julianne Lee
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denn wenn sie schmollte, fand er sie besonders anziehend. Er warf einen raschen Blick auf die Uhr an der Wand und überlegte, ob ihm noch Zeit für ein bisschen Spaß blieb, ehe er sich auf den Weg zum Moss-Wright-Park machen musste.
    Ginny hatte sich noch nicht für die Festspiele zurechtgemacht. Statt des historischen Kostüms, das sie hätte tragen sollen, trug sie Jeans und T-Shirt. Dylan fragte sich, was das bedeuten sollte, hatte aber keine Zeit, länger darüber nachzudenken, da seine Mutter fortfuhr: »Du weißt doch, dass dein Vater am Mittwoch Geburtstag hat?«
    Und ob er das wusste! Zwar hatte er sich nach Kräften bemüht, den Tag zu vergessen, aber trotzdem hatte das Datum ständig in seinem Hinterkopf herumgespukt wie ein böser kleiner Geist. Ein sarkastischer Tonfall schlich sich in seine Stimme. »Yeah. Steht ein Familientreffen an?« Bitte sag nein.
    »Das hoffe ich doch sehr.« Eine Pause entstand, denn Dylan fiel beim besten Willen keine Ausrede ein. Er blickte zu Ginny hinüber und wünschte, sie würde ihm einen Vorwand liefern, das Gespräch abzubrechen, doch seine Mutter redete schon weiter. »Ich habe gedacht, wenn ihr beiden einmal in aller Ruhe miteinander redet ...«
    Und schon ging Dylans Temperament, mit ihm durch. »Er redet nicht, er grunzt nur, und er säuft. Und sobald ich weg bin, prügelt er dich nur so zum Spaß grün und blau.«
    »Das wird nicht wieder vorkommen. Er hat es mir versprochen.«
    »Das hat er schon oft versprochen, und was war? Mom...«
    »Diesmal meint er es ernst. Wir waren bei einer Beratung ...«
    »Ihr beide?« Er biss die Zähne zusammen. Auch das hörte er nicht zum ersten Mal.
    Sie zögerte, und er wusste, was kommen würde. Sie war bei einer Beratung gewesen, Dad nicht. Der doch nicht. Sie schien seine Gedanken zu erraten, denn sie sagte bittend: »Es ist alles furchtbar schwer für ihn, Dylan. Du ahnst ja nicht, unter welchem Druck er steht.«
    Dylan schnaubte abfällig. »Ich weiß nur, dass er meine Mutter zweimal krankenhausreif geprügelt hat. Ich weiß, dass er ein wertloses Stück Scheiße ist, das man am besten ...«
    »Dylan Robert Matheson!«
    Dylan biss sich auf die Lippe und holte einmal tief Atem. Eine Weile herrschte Stille, während er um Beherrschung rang, dann seufzte er resigniert.
    »Es tut mir Leid, Mom. Das hätte ich nicht sagen dürfen. Aber Tatsache ist und bleibt, dass er dich irgendwann mal umbringen wird, wenn ich dich nicht da raushole.«
    Wieder entstand eine lange Pause, ehe er mit weicherer Stimme hinzusetzte: »Und das weißt du so gut wie ich.«
    Seine Mutter antwortete nicht. Schließlich sagte Dylan ergeben: »Okay, Mom, ich komm dann am Mittwoch mal vorbei.«
    Die Mutter klang so erleichtert, als sei das die Lösung all ihrer Probleme. »Schön. Ihr müsst euren Streit endlich aus der Welt schaffen.«
    »Ja, ja, schon gut, Mom.« Dylan war der Tag gründlich verdorben - und das, wo die Sonne eben erst aufgegangen war. »Wir sehen uns dann am Mittwoch.«
    Nachdem er eingehängt hatte, brauchte er einen Moment, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Er ging zu Ginny hinüber, um sie richtig zu begrüßen, aber sie ließ sich nur widerwillig von ihm küssen und machte sich dann rasch von ihm los.
    Dylan musterte sie forschend, ging aber nicht weiter auf ihr abweisendes Verhalten ein, der Tag hatte auch so schon schlecht genug angefangen. Er zwang sich zur Ruhe, stieg die knarrenden Stufen zu seinem mit Holz ausgelegten Übungsraum hinunter und rief Ginny zu: »Komm mit runter und setz dich zu mir, während ich trainiere.« Wenn sie nicht mit ihm ins Bett zurückkriechen wollte, konnte er genauso gut sein Morgenprogramm durchziehen.
    Ginny blieb, wo sie war. Dylan zuckte mit den Achseln, obwohl er sich über sie ärgerte. Manchmal meinte sie, ihm klar machen zu müssen, dass sie keine Befehlsempfängerin war, und dann weigerte sie sich, ihm auch nur die kleinste Bitte zu erfüllen. Er wusste aber, dass sie letztendlich nachgeben und herunterkommen würde, und wenn auch nur, um mit ihm zu reden. Sie langweilte sich leicht und konnte nie lange allein sein.
    Bläuliches Morgenlicht drang durch die weißen Jalousien an den Studiofenstern, die er nicht hochzog, weil er das kühle Halbdunkel im Raum vorzog.
    Die altertümliche mechanische Waage, die vor der Spiegelwand stand, kletterte heute bis auf einhundertvier-undachtzig Pfund - ein Pfund mehr als letzte Woche. Dylan kniff sich in seinen straffen Bauch und kam zu dem Schluss,
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