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Vogelfrei

Titel: Vogelfrei
Autoren: Julianne Lee
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aufstieg.
    Die Soldaten, die ihre Aufgabe erfüllt sahen, stiegen wieder auf ihre Pferde, und der Captain gab den Befehl zum Aufbruch. Die erbeutete Viehherde wurde vorwärts getrieben; der Holzkarren, an den man zwei Ziegen angebunden hatte, bildete die Nachhut. Er wurde von einer struppigen Stute gezogen und von einem Soldaten gelenkt, der oben auf den Beutestücken thronte. Das in den verblichenen rostfarbenen Kilt gewickelte Schwert ragte hinten heraus wie eine eroberte Fahne.
    Sinann wurde das Herz schwer. Sie schluckte und wischte sich die Tränen ab. Ihre Stimme klang heiser vor unterdrückter Wut; ein drohender Unterton schwang darin mit.
    »So kommt ihr mir nicht davon. So nicht!«
    Sie sprang von dem Ast herab, breitete ihre weißen Flügel aus und folgte dem Karren. Über dem Schwert verharrte sie einen Moment reglos in der Luft, um ihre Kräfte zu sammeln, dann packte sie das Heft mit beiden Händen und zog daran.
    Das Schwert bewegte sich nicht. Sinann murmelte ein paar böse Flüche, schwirrte hinter dem sich entfernenden Karren her und versuchte ihr Glück noch einmal. Diesmal gelang es ihr, das Schwert zwischen den anderen Beutestücken hervorzuziehen; ein weiterer kräftiger Ruck und sie hatte es geschafft. Vor Überraschung hätte sie es beinahe fallen lassen, doch sie war entschlossen, dieses Schwert keinesfalls in die Hände der Engländer geraten zu lassen und umklammerte das Heft fester. Die Dragoner ritten weiter; keiner hatte den Diebstahl bemerkt. Sinann beobachtete sie eine Weile, dann machte sie kehrt, um das Schwert zu dem zerstörten Haus zurückzubringen.
    Sarah und die Kinder hatten sich inzwischen in Sicherheit gebracht; höchstwahrscheinlich waren sie den steilen Weg hinab zum Tigh, zu der am See gelegenen Burg hinuntergeflüchtet. Alasdairs Leichnam lag noch immer vor den Trümmern seines Hauses; später würden die Männer des Clans kommen, um ihn zu begraben.
    Sinnan erhob sich in die Luft. Das mächtige Breitschwert war zu schwer für sie, es drohte ihr immer wieder zu entgleiten, denn sie maß kaum viereinhalb Fuß, war dünn und zierlich und hatte nicht viel Kraft. Aber sie musste tun, was sie sich vorgenommen hatte: Das Morden musste ein Ende haben. Wieder kamen ihr die Tränen, und sie zwinkerte ein paar Mal, um klar sehen zu können. Ja, gegen die englischen Besatzer musste etwas unternommen werden, und wenn weder sie noch ihr Volk die Macht dazu hatten, dann musste sie eben einen anderen Weg finden. Abrupt ließ sie das Schwert los und sah zu, wie es zu Boden fiel und in dem matschigen Erdreich stecken blieb.
    Dann ließ sie sich mit untergeschlagenen Beinen davor nieder, um sich einen Moment auszuruhen und wieder zu Kräften zu kommen; ihr Atem ging keuchend. Das vor ihr aufragende Schwert hob sich schwarz vom violett verfärbten Himmel ab, an dem bereits die ersten Sterne funkelten. Nach einer kurzen Verschnaufpause erhob Sinann sich wieder, stellte sich vor dem Schwert auf, schloss die Augen und stimmte in der Alten Sprache einen Zauberspruch an.
    »Schwert unserer Väter, das du von Leben erfüllt bist, schenk du auch jenen das Leben, die mit diesem Land verbunden sind! Schick ihnen einen Mann mit Heldenmut, einen neuen Cuchulain, der die Söhne und Töchter dieses Landes von der Tyrannei befreit. Möge ein Matheson seine Hände auf dich legen und zu diesem Befreier werden! Mögen die Kräfte von Erde, Mond und Sonne, die Kräfte der Luft, des Feuers und des Wassers sich vereinen, um diesem Befreier beizustehen!«
    Sinann trat einen Schritt zurück, als das Schwert zu erglühen schien; es schimmerte in der hereinbrechenden Dunkelheit und verhieß eine Macht, die die Fee seit langer, langer Zeit nicht mehr verspürt hatte. Hoffnung keimte in ihr auf.
    In der Ferne erklang Hufgetrommel. Ein Reiter kam auf sie zugaloppiert. Sinann schrak zusammen und fuhr herum. Der Bann war gebrochen. Sie erkannte den englischen Offizier, der mit wehendem blonden Zopf herangejagt kam, sein Pferd zügelte und begann, den Boden abzusuchen. Sinann blieb stocksteif stehen und bot all ihre Willenskraft auf, um ihn zur Umkehr zu bewegen, doch er lenkte sein Pferd immer näher heran, bis er auf einmal fand, was er suchte: seinen Hut.
    Mit einem Satz sprang er aus dem Sattel, griff nach dem Dreispitz und klopfte sorgsam den Schmutz ab, ehe er ihn aufsetzte und wieder auf sein Pferd stieg.
    Sinann atmete erleichtert auf. Er würde weiterreiten.
    Doch gerade als er seinem Pferd die Sporen geben
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