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Voellig durchgeknallt

Voellig durchgeknallt

Titel: Voellig durchgeknallt
Autoren: Ally Kennen
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dafür, dass ich wieder hin muss.« Ein Wunder, dass er überhaupt noch was sieht, so laufen ihm die Tränen übers Gesicht.
    Zieht jetzt gleich mein Leben im Schnelldurchlauf an mir vorbei? Ich sehe vor mir, wie meine Leiche durch die Luft segelt.
    »O Gott«, sage ich leise.
    »Ich hätte nicht h-h-herkommen sollen«, fährt Lenny fort und der nächste Heulkrampf schüttelt ihn. »Hier kommt mir alles wieder hoch. Aber die Briefe haben mich hergelockt. Außerdem konnte ich sonst nirgendwohin.« Er rotzt in seinen Jackenärmel. Ich könnte versuchen, beruhigend auf ihn einzureden, aber was soll ich sagen? Ich kann den Blick nicht von dem Finger am Abzug wenden.
    »Die haben mich g-g-gequält. Die haben aus mir das W-wrack gemacht, das ich heute bin. Jahrelang war ich ihr Opfer. Sie haben mich kaputtgemacht, mein Leben ruiniert.«
    Ich mache unauffällig einen Schritt in Richtung Leiter.
    »Wer hat Sie gequält?«, frage ich, obwohl ich die Antwort zu kennen glaube.
    |331| Da hört Lenny plötzlich auf zu weinen. Er streichelt den Pistolenlauf.
    »Das warst du, Nappy!«, sagt er heiser. »Du und Juby. Ihr beide habt mich so fertiggemacht, dass ich nicht mehr an der Schule bleiben konnte. Ihr habt so lange auf mir rumgetrampelt, bis nichts mehr da war. Nur noch ein Gespenst. Sieh mich doch an!« Er verzieht das Gesicht. »SIEH MICH AN!«
    Ich gehorche. Der Regen läuft ihm von der Glatze übers Gesicht und mischt sich mit Rotz und Tränen. Er ist so dürr, dass man sich fragt, wie er sich überhaupt auf den Beinen hält.
    »Seh ich nicht aus wie ein Gespenst?«
    Weil ich ihn nicht noch mehr aufregen will, nicke ich. »Ich bin trotzdem nicht Nappy«, wiederhole ich im Flüsterton. »Ich bin Chas.«
    »Aus dir spricht dein Vater. Du hast mich aufgestöbert, als ich ganz unten war, und hast mir grausame, verlogene Briefe geschrieben. Noch nach so vielen Jahren hast du mich dermaßen unmenschlich behandelt.«
    »Das wollte ich nicht.«
    »Und J- J-Juby . Ich hab gesehen, wie er sich einem Jungen auf die Brust gekniet und ihn gezwungen hat, das hier in den Mund zu nehmen.« Lenny greift nach unten und ich mache in Erwartung des Schlimmsten schnell die Augen zu, aber Lenny wirft mir etwas rüber. Es ist klein, leicht und riecht nach Essig. Es kullert über die nasse Plattform und bleibt am Geländer liegen.
    Mein Finger.
    |332| Devil wollte ihn Jamie in den Mund stecken? Uääh! Das hat er uns verschwiegen.
    »Das Böse vererbt sich von den Eltern auf die Kinder. Aber damit ist jetzt ein für alle Mal Schluss!« Lenny beißt sich so fest auf die Lippe, dass man seine ganze obere Zahnreihe sieht. »Tut mir leid.« Er schließt die Augen. »Ich hab ehrlich nicht gewollt, dass es so weit kommt. Aber ich kann mir keine Zeugen leisten. Es gibt kein Zurück.«
    Mir stockt der Atem, als sich sein Finger um den Abzug krümmt.
    Er drückt ab.

|333| Siebenundzwanzig
    Die Kugel trifft die Leiter neben meinem Kopf. Das rüttelt mich endlich auf. Bevor er sich besinnen kann, bin ich losgeklettert. Bei jeder Leitersprosse wird es kälter und windiger. Ich rechne jeden Augenblick damit, dass mich eine Kugel durchbohrt.
    Scheiße, ich bin total hoch. Ich bin schon fast ganz oben im Ausguck. Von hier überblickt man die ganze Welt. Ich trete auf die erste Auslegerstrebe hinaus. Um mich auf das Gitterteil zu stellen, hab ich zu viel Schiss. Es sieht mir zu wacklig aus. Die Lichter unter dem Ausleger sind zwar hilfreich, aber ich kann trotzdem kaum erkennen, wo ich hintrete. Ich versuche, mir einzureden, dass ich bloß eine dieser Leitern langklettere, die auf dem Kinderspielplatz von einem Pfosten zum anderen führen. Leider muss ich aber nach unten gucken, wenn ich erkennen will, wo ich drauftrete, und wenn ich runtergucke, sehe ich tief unten den Boden. Die Streben sind ziemlich weit auseinander. Man kann ganz leicht durchfallen. Schwups.
    »Nappy«, schluchzt Lenny irgendwo unter mir. »Ich muss das jetzt durchziehen.«
    »Hau ab!«, schreit Lexi von irgendwo weiter vorne. »Lass ihn in Ruhe!«
    |334| Am besten denke ich gar nicht mehr an Lenny Darling. Ich muss es ganz, ganz ruhig angehen. Ich zwinge mich, die Strebe, an der ich mich krampfhaft festhalte, loszulassen und nach der nächsten zu greifen. Ich hebe vorsichtig den Fuß und mache einen Schritt ins Leere, dann setze ich ihn auf die nächste Querstrebe. Dieses Kunststück muss ich nur noch ungefähr hundertmal vollführen, und zwar ohne auszurutschen, auszuflippen und
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