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Vittorio

Vittorio

Titel: Vittorio
Autoren: Anne Rice
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davon?«
    Ich wagte nicht zu antworten.
    Die Leute verteilten sich nach und nach über die mond-beschienene Piazza und näherten sich uns jetzt einzeln.
    »In jedem von ihnen ist ein Fünkchen des Allmächtigen, der uns schuf«, rief Mastema, »ein unsichtbarer, edler, heiliger, geheimnisumwitterter Funke - ein Funke dessen, der alles erschuf.«
    »Ah, mein Gott!«, rief ich laut. »Schau sie an, Ursula, schau!«
    Denn jeder, aber auch jeder dort auf dem Platz, gleich, ob Mann oder Frau, ob alt oder jung, erschien in einem kraftvollen, golden glühenden Dunst. Ein subtiles Gebilde aus Licht strahlte von jedem Menschen aus, umgab ihn und hüllte ihn ein und zeichnete die jeweilige Form des Wesens nach, das es so unbemerkt begleitete. Der ganze Platz strahlte von diesem goldenen Licht. Ich blickte auf meine Hände, und auch sie waren von diesem ätherischen Gebilde, diesem lieblichen Schimmer, von diesem kostbaren, unauslöschlichen Feuer umgeben.
    Ich wirbelte herum, dass meine Kleider flogen, und sah, wie diese Flamme auch Ursula einhüllte; ihr Körper lebte, atmete darin. Und als ich meinen Blick wieder auf die Sterblichen richtete, sah ich, dass es bei ihnen genauso war. Und in dem Augenblick wusste und begriff ich - von nun an würde ich dieses Licht immer sehen. Für mich würde jedes lebendige menschliche Wesen, sei es ein widernatürliches Ungeheuer oder die Tugend in Person, dieses blendende Seelenfeuer ausstrahlen.

    »Ja«, flüsterte Mastema mir ins Ohr, »ja, auf immer und ewig, und jedes Mal, wenn du dich von ihnen nährst, jedes Mal, wenn du deine verfluchten Fänge in eine zarte Kehle schlägst, jedes Mal, wenn du, dem schlimmsten Raubtier der Schöpfung gleich, das Blut aus ihnen saugst, das du nicht missen willst, wirst du erleben, wie dieses Licht flackert, wie es kämpft, und wenn durch dein gieriges Saugen das Herz zu schlagen aufhört, wirst du sehen, wie dieses Licht verlöscht!«
    Ich riss mich von ihm los. Er ließ mich gehen.
    Mit Ursula an der Hand rannte ich davon, rannte und rannte, in Richtung auf den Arno, wo die große Brücke war und die Tavernen, die vielleicht noch geöffnet hatten.
    Doch schon lange vorher leuchteten mir Hunderte von diesen Seelen aus Fenstern entgegen und schimmerten unter verriegelten Türen hindurch.
    Da wusste ich, dass der Engel die Wahrheit gesagt hatte.
    Von nun an würde ich es immer sehen. Ich würde den Funken des Schöpfers in jedem Menschenwesen erblicken, dem ich begegnete, und in jedem, dem ich das Leben nahm.
    Oben auf der Arnobrücke beugte ich mich über das steinerne Geländer und schrie und schrie, so dass die Schreie auf dem Wasser und an den Wänden widerhall-ten. Ich war fast wahnsinnig vor Kummer. Und dann trottete durch die Dunkelheit ein Kind auf mich zu, ein Bettelbalg, schon in der Kunst bewandert, Brot oder Münzen oder andere freiwillige milde Gaben zu erflehen.
    Und um seinen Körper glühte und flackerte und funkelte und tanzte das gleißende, kostbare Licht.

    16

    UND DIE DUNKELHEIT HERRSCHTE NICHT

    Immer wenn ich im Verlauf der Jahre eine von Fra' Fil-iipos herrlichen Schöpfungen sah, wurden die Engel für mich lebendig, nur für einen Augenblick, nur gerade so lange, um meinem Herzen einen Stich zu versetzen, als bohrte sich eine Nadel tief hinein.
    Mastema erschien erst viel später auf Filippos Gemälden, erst nachdem Cosimo ins Grab gefahren war und er, Filippo, streitsüchtig und kampfbereit wie stets, für dessen Sohn Piero arbeitete.
    Fra' Filippo gab seine geliebte Nonne, Lucrezia Buti, nicht mehr auf, und man sagte von ihm, dass jede heilige Jungfrau, die er malte - und das waren eine Menge -, Lucrezias wunderschönes Gesicht hatte. Lucrezia schenkte Filippo einen Sohn, der ebenfalls Maler wurde und sich Filippino nannte. Auch seine Werke zeichneten sich durch ihre erhabene Herrlichkeit und die Vielzahl an En-gelsgestalten aus. Und auch seine Engel offenbarten sich stets für einen Augenblick, wenn ich kam, um vor einer Leinwand Andacht zu halten, weil ich traurig und niedergeschlagen, übervoll von Liebe und verängstigt war.
    Filippo starb 1469 in Spoleto. Dort endete das Leben eines der größten Maler, den die Welt je gekannt hat, das Leben des Mannes, den man wegen Betruges auf die Folter spannte, der einem Kloster Verderben brachte, aber auch des Mannes, der die vielen wunderbaren Darstellungen der Maria schuf.
    Und ich habe mich in den vergangenen fünfhundert Jahren nie zu weit von dieser Stadt entfernt, aus der
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