Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vittorio

Vittorio

Titel: Vittorio
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
seine Engel fortgenommen, und darum hat er dieser Laune nachgegeben. Und wozu war das gut? Wozu? Damit ich dich nun ebenso besitze, wie er seine Nonne besitzt?«
    »Ich weiß nicht, was du meinst, Vittorio«, sagte sie. »Was bedeuten mir schon Nonnen und Priester? Ich habe nie ein Wort gesagt, um dich nicht zu verletzen, niemals.
    Aber nun muss ich es sagen: Steh nicht hier herum und weine um diese Sterblichen, die du geliebt hast. Wir beide sind einander vermählt, und kein religiöses Gelübde, keine priesterliche Salbung kann uns trennen. Lass uns von hier fortgehen, und wenn du mir im Lampenschein die wunderbaren Bilder dieses Malers zeigen willst, dann bring mich dahin, wo ich die Engel, von denen du erzählt hast, in Ölfarben auf die Leinwand gebannt sehe.«
    Ihre feste Entschlossenheit ernüchterte mich. Abermals küsste ich ihre Hand und erklärte, dass es mir Leid täte.
    Dann zog ich sie an mein Herz.
    Ich weiß nicht, wie lange wir so verweilten. Ich weiß es nicht. Die Zeit verging. Ich hörte irgendwo Wasser laufen, und Schritte klangen in der Ferne, aber nichts von Bedeutung, nichts, das hier im übervölkerten Florenz mit seinen vier- und fünfstöckigen Palästen, mit den alten, halb eingestürzten Türmen, mit seinen Kirchen und den Tausenden und Abertausenden schlummernder Seelen mitten in dieser finsteren Nacht wichtig gewesen wäre.
    Erst ein Licht ließ mich auffahren. Seine hellen gelben Strahlen fielen auf mich. Gleich den ersten Strahl, eine hauchdünne glänzende Linie, hatte ich bemerkt. Sie durchschnitt Ursulas Gestalt, dann folgte ein weiterer Strahl und noch einer und erhellte die Gasse uns gegen-
    über. Ich stellte fest, dass die Lampen in Fra' Filippos Werkstatt angezündet worden waren. In dem Moment, als die Riegel von innen mit einem leisen, kratzenden Geräusch zurückgeschoben wurden, wandte ich mich um. Das Geräusch hallte an den hohen Mauern wider.

    Oben, hinter den vergitterten Fenstern, schien kein Licht.
    Urplötzlich flogen die Türflügel auf und klappten leise, beinahe geräuschlos, gegen die Wand, so dass ich ins Innere sehen konnte, in einen rechteckigen, weitläufigen Raum, der über und über mit Leinwänden in leuchtenden Farben voll gestellt war. Sie erstrahlten im Glanz un-zähliger Kerzen - genug, um eine bischöfliche Messe damit auszustatten.
    Mir stockte der Atem. Ich packte Ursula und drehte ihren Kopf in die Richtung, in die ich mit dem Finger zeigte.
    »Da sind sie, beide«, flüsterte ich. »Die beiden Bilder von der Verkündigung. Siehst du die Engel? Da, die Engel, sie knien am Boden, da, und da noch einmal, die Engel, die vor der Jungfrau knien!«
    »Ja«, sagte Ursula ehrerbietig. »Sie sind viel schöner, als ich gedacht hatte.« Dann rüttelte sie an meinem Arm.
    »Vittorio, weine nicht, es sei denn, du weinst wegen ihrer Schönheit. Aber nur deshalb darfst du weinen!«
    »Ist das ein Befehl, Ursula?«, fragte ich. Meine Sicht war von Tränen so umnebelt, dass ich die gelassenen, knien-den Gestalten der beiden - Ramiel und Setheus - kaum wahrnehmen konnte. Aber als ich mich um einen klaren Blick, um ein bisschen Vernunft bemühte, als ich die En-ge in meiner Kehle hinunterschlucken wollte, da trat das Wunder ein - das Wunder, das ich mehr als alles andere fürchtete und nach dem ich mich doch mit meiner ganzen Seele sehnte.
    Da kamen sie, meine beiden blonden Engel, mit glänzen-dem Heiligenschein und seidenen Gewändern - gemeinsam traten sie aus der Leinwand heraus, lösten sich unmittelbar aus dem dichten Gewebe. Zuerst drehten sie den Kopf, dann folgten weitere Bewegungen, so dass sie nicht mehr als flaches, zweidimensionales Bild erschienen, sondern als voll ausgeprägte Gestalten. Sie machten einen Schritt und standen auf dem steingepflasterten Boden der Werkstatt.
    Ich hörte Ursula aufkeuchen und wusste, dass auch sie diese bewegte, wundersame Szene verfolgt hatte. Sie presste die Hand vor den Mund.
    Ihre Mienen zeigten weder Zorn noch Trauer. Sie schauten mich nur an, aber für mich stand in ihren sanften, freundlichen Blicken die tiefste Verdammnis.
    »Straft mich«, flüsterte ich. »Zur Strafe nehmt mir mein Augenlicht, so dass ich eure Schönheit nie wieder sehen kann.«
    Ramiel schüttelte ganz langsam den Kopf, und Setheus verneinte gleichermaßen. Barfüßig wie immer standen sie Seite an Seite, während ihre Augen unverwandt auf mir ruhten. So gewichtslos waren ihre reichen Gewänder, dass sich kein Luftzug darin fangen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher