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Vittorio

Vittorio

Titel: Vittorio
Autoren: Anne Rice
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konnte.
    »Was dann?«, fragte ich. »Was habe ich denn dann verdient? Wie kommt es, dass ich euch, eure Herrlichkeit immer noch sehen kann?« Wieder zerfloss ich in kindi-schen Tränen, auch wenn mir Ursulas vorwurfsvolle Miene noch so deutlich sagte, ich solle mich wie ein Mann betragen. Ich konnte einfach nicht aufhören. »Wieso kann ich euch immer noch sehen?«
    »Du wirst uns immer sehen können«, sagte Ramiel leise, tonlos.
    Und Setheus fügte hinzu: »Immer wenn du eines von Filippos Bildern betrachtest, wirst du uns sehen - oder andere Engel.«
    Es lag kein Urteil in diesen Worten, nur die Güte und ruhige Gelassenheit, die sie mir immer gezeigt hatten.
    Aber das war nicht alles. Hinter ihnen nahmen meine eigenen Schutzengel Gestalt an, dieses ernste elfenbein-gleiche Paar in den unwirklich blauen Gewändern. Wie hart ihre Augen blickten, wie wissend und verachtungs-voll, und doch ohne die Schärfe, mit denen solche Ge-fühle bei Menschen einhergehen. Gletscherkalt und dis-tanziert!
    Meine Lippen öffneten sich zueinem Schrei, einem entsetzlichen Schrei. Aber ich wagte nicht, die Nacht um mich aufzustören, die endlose Nacht, die sich über die tausend und abertausend roten Schindeldächer ausbreitete und sich unter den zahllosen Sternen über Land und Hügel erstreckte.
    Und dann begann das Haus zu beben. Die Leinwände, die in dem strahlenden Licht glänzten und schimmerten, begannen zu vibrieren, als würden sie von einem Erdbeben durchgeschüttelt.
    Und dann stand Mastema vor mir, der Raum verschob sich jäh, wurde breiter und tiefer, und die anderen, weniger mächtigen Engel wurden von ihm fortgefegt wie von einem lautlosen, undefinierbaren Wind.
    Er breitete die gewaltigen goldenen Schwingen aus, so dass sie in der Lichterflut hell aufglühten; sie streckten sich, wobei sie selbst den letzten Winkel des weiten Raumes füllten, und schienen ihn noch weiter auszudehnen.
    Mastemas roter Helm glühte wie geschmolzenes Erz.
    Und nun zog er sein Schwert aus der Scheide.
    Ich sprang zurück und zwang Ursula hinter meinen Rü-
    cken, schob sie gegen die feuchte, kalte Wand und streckte die Arme nach hinten aus, so dass sie wie gefangen war. Damit versuchte ich ihr so viel Sicherheit zu verschaffen, wie es mir auf dieser Welt möglich war, und sie vor seinem Zugriff zu schützen.
    »Ah«, nickte Mastema lächelnd. Er hob das Schwert.
    »Also willst du immer noch lieber zur Hölle fahren, als sie tot zu sehen.«
    »Ja!«, rief ich. »Ich habe keine Wahl.«
    »Oh, doch, du hast die Wahl!«

    »Nein, lass sie, töte sie nicht. Töte mich, schick mich zur Hölle, meinetwegen. Aber ihr gib noch eine Chance ...«
    Ursula lag an meine Schulter gelehnt und weinte. Ihre Hände hatten sich in mein Haar gekrallt und klammerten sich daran, als wäre es ihr letzter sicherer Hort.
    »Jetzt, auf der Stelle, verbanne mich in die Hölle«, rief ich. »Mach nur, schlag mir den Kopf ab und schick mich vor das Gericht des Herrn, damit ich dort für Ursula bitten kann; denn sie weiß nicht, wie man um Vergebung bittet -
    noch nicht!«
    Immer noch hielt er das Schwert hoch über seinem Kopf erhoben, doch mit der anderen Hand packte er mich am Kragen und zerrte mich dicht an sich heran, bis ich fast an seinem Kinn klebte und seine glühenden Augen mich drohend anblickten.
    »Und wann wird sie es lernen? Wann wirst du es lernen?« Was konnte ich sagen? Was konnte ich tun?
    »Ich werde es dich lehren, Vittorio«, zischte Mastema.
    »Ich werde es dich lehren, bis du weißt, wie man um Vergebung bittet, Nacht für Nacht, solange du lebst. Ich werde es dich lehren!«
    Ich merkte, wie ich emporgehoben wurde, spürte Ursulas Hände, die sich an mich klammerten, und fühlte ihr Gewicht auf meinem Rücken.
    Dann schleppte er uns durch die Straßen, bis eine Gruppe Müßiggänger mit im Winde flatternden Kleidern vor uns auftauchte, die gerade aus einer Weinstube kam. Sie waren angetrunken, und ihre lachenden, vom Wein auf-gedunsenen Gesichter wirkten im Gegensatz zu unseren so natürlich.
    »Du siehst sie doch, Vittorio? Siehst du die, von denen du dich nährst?«, fragte Mastema eindringlich.
    »Ja, ich sehe sie, Mastema!«, sagte ich, dabei tastete ich unsicher nach Ursulas Hand, wollte wissen, wo sie war, wollte sie festhalten und beschützen. »Ich sehe sie, wirklich!«
    »In jedem Einzelnen von denen dort sehe ich, was ich auch in dir und in ihr sehe - eine menschliche Seele.
    Weißt du, was das ist, Vittorio? Hast du eine Vorstellung
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