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Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)

Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)

Titel: Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
Autoren: Oliver Susami
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Tobias und Kerstin kippen simultan vom Erstaunen in die Irritation. Es ist Kerstin, die zuerst etwas sagt:
    „Oh Scheiße, was ist denn mit dir passiert?“ Tobias glotzt nur vor sich hin und sieht dabei aus, als müsste er sich gleich übergeben. Zu gerne hätte ich einen Spiegel, zu gerne würde ich meine blutverschmierte Fresse sehen. „Pssst“, mache ich und halte mir den Zeigefinger an die Lippen.
    Einige Sekunden stehen wir so da. Ich warte darauf, Paula zu hören. Ich warte, dass sie gegen die Tür hämmert oder – besser noch – das Glas einschlägt. Aber nichts passiert, es ist völlig still in dem großen, verfallenden Haus. Vielleicht habe ich mir diese Schritte nur eingebildet, vielleicht ist sie immer noch oben im vierten Stock … in diesem Zimmer. Oh Gott, hoffentlich geht es Frau Diehl gut! Hoffentlich tut Paula ihr nichts! Und hoffentlich geht es auch Paula gut, hoffentlich ist sie wieder bei sich … oh Scheiße! Hoffentlich tut sie sich nichts an! Hoffentlich springt sie nicht oben aus dem Fenster und dann finde ich sie ganz verdreht und aufgeplatzt auf dem Parkplatz, umgeben von den vertrockneten Überresten, die ich aus dem Fenster geworfen habe.
    Ich zeige Richtung Küche, Kerstin versteht meine Geste, nimmt den blassen Tobias am Arm und zieht ihn in den gefliesten Raum mit den Schlafsäcken, den Stahlregalen und dem Fernseher. Es riecht nach Fett hier drin, sie haben sich was zu essen gemacht. Stille, nichts als Stille. Vielleicht ist sie wirklich noch oben. Wieder Kerstin, diesmal flüsternd:
    „Was ist denn passiert? Das sieht ja schlimm aus.“
    „Meine Freundin hat mich geschlagen“, antworte ich.
    „Oh Scheiße“, flüstert Tobias.
    „Paula?“, fragt Kerstin und ich wundere mich, dass sie noch ihren Namen kennt.
    „Ja, Paula. Ich muss jetzt ganz schnell zur Polizei. Wisst ihr, wo die nächste Polizei ist?“
    „Kerstin zieht ihr Handy aus der Tasche.
    „Ich ruf die an … ich ruf die Bullen.“
    „Nein, bitte hört mir zu. Ich will, dass ihr mit mir zum Auto geht. Wir gehen hier zum Fenster raus und dann müssen wir nur über den Parkplatz. Ich weiß nicht, ob Paula da irgendwo ist. Dann steigt ihr mit mir ins Auto und wir fahren zur Polizei.“
    „Ich kann die echt anrufen“, sagt Kerstin. „Ich kann auch 'nen Krankenwagen rufen. Du blutest total heftig.“
    „Das ist überhaupt nicht so viel, das sieh nur schlimm aus. Ich studiere Medizin, ich hab' da Ahnung von. Bitte kommt mit mir bis ans Auto, ich hab' Angst alleine. Das muss jetzt alles sehr schnell gehen.“
    Ich gehe zum Fenster und hänge das Expanderseil aus. Kerstin und Tobias rühren sich nicht. Sie wissen nicht, was sie von der Sache halten sollen. Bestimmt denken sie, dass ich nicht ganz klar bin.
    „Bitte kommt mit … nur bis zum Auto. Dann seid ihr aus der Sache raus. Ich weiß hundert Prozent, was ich tue.“
    „Okay, sagt Tobias. Kerstin nickt.
    Als wir zu dritt über den Parkplatz laufen, da sehe ich Paula. Sie steht auf den Treppen zum Eingang des Herbsthauses, sie ist doch nach unten gekommen. Paula schaut uns einfach nur nach, sagt nichts und tut nichts. Eine Seite von mir würde am liebsten zu ihr gehen, mit ihr sprechen, sie umarmen. Mein Gott, sie sieht so verloren aus, wie sie da alleine steht. Aber eine andere, eine rationale, kühle und klare Seite, die läuft an den qualmenden Resten des Affenkostüms und den Trümmern des Schaukelstuhls vorbei zum Auto, die schließt auf, steigt ein und startet den Motor. Tobias schiebt seinen mageren Körper auf den Beifahrersitz, Kerstin klettert hinten rein. Ich habe die Beiden nicht darum gebeten, dass sie mitkommen. Sie steigen einfach ein.
    „Kannst du fahren?“, fragt mich Kerstin.
    „Ja, keine Sorge“, antworte ich. Mir fällt ein, dass auch Herr Brandt mich fragte, ob ich fahren kann … damals, nach meiner ersten Begegnung mit diesem verdammten Haus.
    „Wisst ihr jetzt, wo die nächste Polizeiwache ist?“
    „Ja … natürlich“, antwortet Tobias. „Ich sag' dir, wo du lang musst.“
    Als ich vom Parkplatz fahre, da steht Paula immer noch auf den Stufen zum Eingang. Es zerreißt mir das Herz, sie hier zurückzulassen. Bitte Paula, bleib hier unten stehen, geh nicht wieder zurück in dieses Haus. Bleib hier unten in der Kälte und warte.
     
    ***
     
    „Der Ratscher am Haaransatz, der muss genäht werden, der Rest heilt von alleine, da dürfte auch nichts bleiben.“
    Der kräftige Mann im blütenweißen Kittel lässt meine Haare los.
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