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Viereinhalb Wochen

Viereinhalb Wochen

Titel: Viereinhalb Wochen
Autoren: Constanze Bohg
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abweisende Perfektion aus. Ich wunderte mich über mich selbst. Ich sagte mir immer wieder, dass es um etwas Schönes gehe, um den ersten richtigen 3 -D-Blick auf unser Baby, aber nichts half. Mit zusammengeschnürter Kehle schob ich meinen Mutterpass und meine Chipkarte über das Pult. Die Arzthelferin sah im Terminkalender nach.
    »Ich kann Sie nicht finden, Frau Bohg. Sind Sie sicher, dass Sie heute einen Termin haben?«
    Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich sie das sagen hörte.
    »Kein Problem, das macht nichts«, bemerkte ich, nicht aus gespielter Höflichkeit, sondern aus tiefstem Herzen, »wir gehen wieder. Das macht überhaupt nichts.« Ich griff nach den Unterlagen und nach Tibors Hand und zog ihn zu der rettenden Glastür hinter uns. Er zögerte kurz, schien aber einverstanden mit der Entscheidung, möglichst schnell von hier zu verschwinden. Doch wir hatten die Rechnung ohne die Arzthelferin gemacht.
    »Nein, nein, nein, bleiben Sie, bleiben Sie! Das kriegen wir hin, wir können Sie zwischen zwei andere Termine schieben …«
    »Das ist nicht nötig«, startete ich noch einen Versuch, ihr zu entkommen, »wir kommen ein anderes Mal …«
    Mein Versuch misslang: »Natürlich kommen Sie heute dran«, hörte ich die Frau bestimmt sagen, »das kommt nicht in Frage, dass wir verschieben. Gehen Sie einstweilen einfach hinüber in die Buchhandlung Dussmann. Ich rufe Sie an, wenn wir so weit sind.«
    Was blieb uns übrig, als uns zu fügen? So gingen wir widerwillig in das Kulturkaufhaus auf der anderen Straßenseite, hockten uns in die Abteilung für Eltern und Kinder und griffen uns jeder ein Namenbuch, um schon mal nach einem Namen für unsere Erdbeere zu suchen. Jeder von uns hatte schon eine Liste auf seinem Handy, und vielleicht würden wir an diesem Tag auf ein paar schöne neue Namen stoßen.
    Meine vorübergehende Entspannung verflog mit einem Schlag, als das Telefon klingelte und die Praxis um unsere Rückkehr bat. Wieder hatte ich das beklemmende Gefühl im Fahrstuhl, das Magendrücken an der Rezeption und im Wartezimmer, bis ich endlich auf der Liege im Untersuchungsraum lag, meine linke Hand in Tibors Hand, und die Ärztin mit der Untersuchung begann.
    »Dann wollen wir mal.«
    Unsere geliebte Erdbeere!

[home]
    Finsternis
    I ch kann mich nicht mehr erinnern, wie wir nach der Diagnose und dem Zusammenbruch wieder aus dem dämmrigen Ruheraum der Praxis herauskamen. Meine Augen brannten von den Tränen, ich fühlte mich ausgelaugt. Ich wollte nichts als liegen, mich verkriechen, schlafen. Ich weiß nicht mehr, wie wir es aus der Praxis schafften, aus dem Marmor und Stahl und Glas des modernen Gebäudes hinaus auf die Straße, vorbei an einer Familie vor dem Fahrstuhl, Mutter mit dickem Bauch, Vater, Kind an der Hand, die uns alle ungläubig ansahen. Uns verheulte, gebeugte, vermutlich erbärmlich aussehende Gestalten. Ich weiß nicht mehr, wie wir unseren Weg hinaus in die Welt jenseits der Monitore und der wissenschaftlichen Fakten und Befunde fanden. Ich weiß es nicht und wunderte mich im Nachhinein darüber, dass wir es überhaupt schafften.
    »Das kann doch nicht wahr sein!«
    Nur dieser eine Satz hatte Platz in meinem Kopf.
    »Das kann doch nicht wahr sein!«
    Wir standen auf der Friedrichstraße, verweint und ohne Orientierung. Rund um uns herum tobte das Leben in einer Dichte, wie ich es sonst nur in Manhattan erlebt habe: Mit Menschen vollgepackte Bürgersteige. Büroangestellte mit Brötchen und Kaffee in Pappbechern. Geschäftsleute mit Aktenkoffern. Obdachlose mit ihren Zeitungen. Autoschlangen, Fahrradkuriere, Busse. Straßenverkäufer, lachende Menschen, verliebte Pärchen, S-Bahnen und ICE -Züge auf der Trasse über der Straße, Touristen, Kurierdienstfahrer mit Sackkarren. Das pralle Leben, und wir standen regungslos an der Straßenbahnhaltestelle, wie Wesen von einem anderen Stern. Ich kam mir vor wie der Hauptdarsteller Neo in dem Film »Matrix«, und die gesamte Wirklichkeit um mich herum war eine künstliche Kulisse. Wie ein Film, in dem ich nicht mitspiele, eine surreale Inszenierung.
    »Was machen wir jetzt?«, hörte ich mich fragen, während ich uns beide wie von außen sah, schlechte Schauspieler am Rand eines übervollen Gehwegs. Eine Antwort hatte ich nicht erwartet. Wir waren beide draußen aus dem System Leben, als hätte dieses Leben Hände und die hätten uns rausgenommen und am Rand abgestellt, als unbeteiligte Zuschauer.
    »Schatz, wir schaffen das. Wir stehen das
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