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Viereinhalb Wochen

Viereinhalb Wochen

Titel: Viereinhalb Wochen
Autoren: Constanze Bohg
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ich ihn wieder gefunden hatte, brach ich in Tränen aus. Wie dumm meine Reaktion war! Wie herzlos! Meine Schwester weiß von nichts, musste ich mich zu denken zwingen, wie sollte sie das nur wissen? Wieder heulend nahm ich den Elefanten zu mir, noch mehr heulend sah ich ihn an. Ich wusste, dass ich ihn vor mir selbst verstecken musste, wenn ich nicht wahnsinnig werden wollte vor Schmerz. Ratlos sah mir mein Bruder zu. Niemand, das war mein Gefühl, konnte mir Rat geben, niemand Linderung, niemand Hilfe.
    Die Nacht war endlos. Wir heulten, wir jammerten, wir flehten. Dazwischen nickten wir weg, um bald wieder aufzuwachen. Jedes Mal, als ich die Augen aufs Neue aufschlug, durchfuhr es mich, dass alles nur ein böser Traum sei. Sobald ich völlig wach war, fiel mir wieder der letzte Tag ein: der Bildschirm, der Professor, die Diagnose. Der letzte Tag war kein Traum gewesen, sondern ein Schlag ins Gesicht.
    Erschöpft ließ ich mich zurück ins Kissen sinken, mit der Hoffnung auf Schlaf, doch der kam erst nach dem nächsten Weinkrampf bis zur Erschöpfung. Was wir erfahren hatten, war zu erdrückend für mich, um es verarbeiten zu können. Mir war, als würde mein Gehirn aus Karteikarten bestehen, und ich würde alle durchblättern, auf der Suche nach einer ähnlichen Situation, die ich schon einmal erlebt hatte. Immer wieder ließ ich die Fingerkuppen imaginär über die Karten gleiten, mein Leben zog an mir vorbei, Bilder über Bilder stürmten auf mich ein, aber ich fand nichts. Nichts. Noch nie hatte ich mich in so einer Situation befunden, nicht einmal annähernd. Selbst mein Burnout vom letzten Jahr war ein Spaziergang gegen das, was ich nun erlebte. Damals wusste ich, dass ich zu Ärzten gehen werde, zu Psychologen. Ich wusste irgendwann, dass die das wieder »hinbekommen«. In dieser Nacht hingegen war mir klar, dass mir kein Arzt helfen kann. Ich spürte nichts als Hilflosigkeit, Sinnlosigkeit. Ich war hungrig, aber ich wollte nicht essen. Ich war verschwitzt, aber ich wollte nicht duschen. Meine gesamte Lebensenergie war aus mir gewichen, Tibor erging es nicht anders.
    Unendliche Finsternis umgab uns.

[home]
    Fünfzig Jahre
    A ls Tibor am nächsten Morgen aus dem Schlafzimmer kam, lief er unserem Mitbewohner Victor in die Arme. Der war bester Laune und dachte, dass der Papa in spe das auch sei. »Na, alles jut, Kumpel?!«, versuchte er breit zu berlinern. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis er mitbekam, dass nichts gut war. Tibor erzählte ihm in knappen Worten, dass unser Baby krank sei. Ohne lange nachzufragen oder zu überlegen, nahm der Chilene Tibor in den Arm und hielt ihn fest. Das war das Beste, was er tun konnte. So durfte mein Mann weiter weinen, wie ich das im Schlafzimmer tat, von wo aus ich die Szene mitbekommen hatte. Wir verließen in diesen Tagen kaum unsere zwei WG -Zimmer, nur für das Allernötigste und die Arzttermine. Der Appetit auf Erdbeeren war mir vergangen.
    Doch das Leben ging weiter: E-Mails aus den USA erreichten uns, Glückwünsche zu unserem Baby. Anrufe, die wir nicht beantworteten. Auch meine Mutter rief an – mit ihr musste ich sprechen. Sie war aus dem Häuschen über ihr erstes Enkelkind. Instinktiv verstellte ich mich unter Aufbietung aller meiner Kräfte so, als ob alles in Ordnung wäre – ich brachte es nicht übers Herz, ihre Freude zu zerstören. Ich hatte auch nicht die geringste Ahnung, wie ich ihr die Nachricht beibringen sollte. Ich wusste nur, dass ich es zu diesem Zeitpunkt nicht konnte. Noch nie in meinem Leben war ich so froh gewesen, ein Telefonat mit meiner Mutter beenden zu können.
    Dienstagmittag standen Tibor und ich wieder in der Friedrichstraße, vor demselben Haus wie tags zuvor. In demselben Gedränge, unter demselben Maihimmel, nur verzweifelter, hoffnungsloser und aufgelöster als tags zuvor. Diesmal saßen wir in der Praxis einer Humangenetikerin gegenüber, die uns über unsere Familien ausfragte. Sie zeichnete unseren Stammbaum und fragte uns nach Erbkrankheiten in unseren Familien.
    Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was uns dieses Gespräch bringen könnte und was wir hier sollten. Mir gelang es nicht, mich des Gefühls zu erwehren, dass wir wie Schafe vorgeführt wurden, zu einer Schlachtbank sollten, die noch nicht zu sehen war. Instinktiv ergriffen Tibor und ich einander unsere Hände. Die Humangenetikerin sprach indes über unser Kind, über unsere Erdbeere, bis ich stutzte: Sie sprach in der Vergangenheit von unserem Kind! Sie
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