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Vier minus drei

Titel: Vier minus drei
Autoren: Barbara Pachl-Eberhart
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Fuß zuckt auf dem Gaspedal auf und ab. Ich schaue stur geradeaus. Auf die Straße. Auf den Tachometer.
    Langsam fahren. Vorsichtig fahren. Ich muss nach Takern. Ich komme. Heli braucht mich. Die Kinder brauchen mich. Der Bus steht.
    »Lieber Gott, lass sie leben! Lass sie leben und fröhlich sein, bitte, bitte, lieber Gott!«, rufe ich laut, immer wieder.
    Ich wähle Helis Nummer. Freizeichen. Ich hoffe. Freizeichen. Ich flehe. Freizeichen. Ich bete. Die Sprachbox meldet sich. Ich begreife. Etwas Schreckliches ist geschehen.

    Jemand ist tot.
    Eine Flut von Bildern bricht über mich herein. Mein Kopf ist ein Fernsehgerät, das sieben Programme gleichzeitig überträgt, und auf jedem Sender läuft ein Katastrophenfilm.
    Heli ist tot. Heli hat einen Menschen totgefahren. Heli ist unschuldig getötet. Thimo ist tot und Heli ist schuld. Fini ist tot. Heli ist tot und die Kinder stehen allein auf der Straße. Heli lebt, die Kinder sind tot.
     
    Seltsam. Ich rechne mit allem, nur mit einem nicht.
    Alle sind tot.
    Daran denke ich keine Sekunde.
     
    Jemand ist gestorben.
    So lautet der kleinste gemeinsame Nenner in meinem Kopf. Aber es bleibt eine Rechnung mit vielen, zu vielen Unbekannten für ein exaktes und eindeutiges Ergebnis.
    Heli soll leben. Bitte! Aber, wer ist dann tot? Thimo? Das würde Heli nicht verkraften, niemals. Fini? Thimo oder Fini? Lieber Gott, lass es jemand anders sein! … Um Gottes Willen, was denke ich da?
    Während die Kilometer der Autobahn unscharf vorüberziehen, wird mir etwas klar. Die Geschichte ist längst fertig geschrieben. Das Ende steht fest. Aber es findet sich niemand, der mir die letzte Seite vorliest.
    Ich rufe eine Freundin an, die in unmittelbarer Nähe des Bahnübergangs wohnt.
    »Ja?«
    Annas Stimme klingt fröhlich.

    Sie weiß es also noch nicht.
    »Bitte, Anna, fahr sofort zum Bahnübergang. Heli hat einen Unfall gehabt, er braucht dringend Hilfe. Bitte, steh ihm bei, bis ich komme. Steh ihm bei und sag ihm, es wird alles gut!«
    »Okay.«
    Anna legt rasch auf. Keine Zeit für Fragen. Ich bin erleichtert.
    Heli ist nicht mehr allein. Anna steht ihm bei. Alles wird gut.
    In diesem Moment der Erleichterung geschieht ein Wunder. Wie sonst soll ich das Erlebnis nennen, durch das alles, was ich bisher als meinen Glauben bezeichnete, in einem Augenblick zur Gewissheit wurde? Das Erlebnis, das mir meine Verzweiflung nimmt und meine Angst?
    Ich spüre, wie sich von hinten ein warmer Mantel um mich legt. Ein Mantel der Liebe, zärtlich und sanft.
    Es ist gut, alles ist gut .
    Die Worte kommen nicht aus meinem Kopf, sie klingen in meinem Herzen wie das Echo einer altvertrauten Stimme.
    Heli!
    Mein Fuß auf dem Gaspedal hört auf zu zittern. Meine Gedanken stehen still. Ich fühle mich geborgen und beschützt.
    Heli lebt. Heli ist im Himmel. Heli ist bei mir. Alles ist gut.
     
    Ich werde zur Marionette. Hänge fortan an unsichtbaren Fäden. Ein gütiger Puppenspieler führt mich, er meint
es gut mit mir. Vertrauensvoll gebe ich mich ganz in seine Hände.
    Noch fünfhundert Meter bis zur Unfallstelle. Mein Handy klingelt.
    Anna.
    »Barbara, wo bist du?«
    »Ich bin gleich da.«
    »Komm bitte zu Sabines Haus. Wir treffen uns dort.«
    »Gut.«
    Folgsam biege ich rechts ab, zum Haus meiner besten Freundin Sabine. Annas Anruf hat mich im letzten Moment von der Unfallstelle weggelotst. Der Puppenspieler hat wohl beschlossen, mich gewisse Dinge nicht sehen zu lassen. Ich gehorche. Ahne, dass es so besser ist.
    Immer noch erfüllt mich diese seltsame Ruhe. Nichts in mir rebelliert, nichts lehnt sich auf. Ich fühle, dass hier etwas geschieht, das alle Grenzen sprengt. Es ist zu mächtig, als dass ich es beeinflussen könnte. So gewaltig, dass ich beschließe, die weiße Flagge zu hissen. Mich zu ergeben. Mich hinzugeben, ganz und gar.
    Ich läute an Sabines Tür. Niemand da. Ist sie bei Anna? Ich stehe im Garten und zittere. Mein Körper macht sich selbstständig, mein Geist steht still. Ich mache das Einzige, was es noch zu machen gilt. Ich muss meinen Auftritt als Clowndoctor absagen, der eigentlich für den Nachmittag geplant gewesen ist. Meine Stimme klingt gefasster, als ich es selbst erwartet hätte.
    »Hallo, Hannes, ich kann heute leider nicht zum Einsatz kommen. Heli hat einen Unfall gehabt und ich glaube, er ist tot.«

    Als mein Kollege irgendetwas flüstert wie »Um Gottes Willen«, sehe ich Annas Auto um die Ecke biegen.
     
    Anna und Sabine steigen aus, tränenüberströmt. Die
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