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Viele Mütter heißen Anita

Viele Mütter heißen Anita

Titel: Viele Mütter heißen Anita
Autoren: Heinz G. Konsalik
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strich sich über den Seidenrock. »Sie haben das alles noch nicht gesehen?«
    »Nein.« Juans Herz schlug heftig – wie ein Krampf war es in seiner Brust. »Ich bin nie aus diesen Hügeln herausgekommen.«
    »Wie schade!« Das Mädchen sah Juan mit großen, traurigen Augen an. Ein armer Junge, dachte sie, und Mitleid durchzog sie. Wie schön er aussieht, wie klug seine Stirn ist, wie schmal und weich sein Mund, wie tief und unergründlich seine braunen Augen. »Sie sind wohl sehr traurig, Juan?« sagte sie leise.
    Er nickte leicht – es war nur eine Andeutung von einem Nicken. Er schämte sich wieder, daß er so arm und armselig war und daß ein Mädchen mit ihm Mitleid hatte, statt ihn zu bewundern, wie sie seinen Bruder bewunderten, wenn er einen Stier bei den Hörnern nahm und in die Knie drückte, daß er wutbrüllend willenlos wurde.
    »Ich möchte ein Künstler werden«, sagte er still.
    »Ein Künstler? Was ist das?«
    »Sie kennen keinen Künstler?« fragte er erstaunt.
    »Nein, Herr Torrico.«
    »Ich habe einmal gelesen, daß sich die Männer Künstler nennen, die Leinwand mit bunten Bildern bemalen oder aus Stein Bildwerke hauen. Ich habe in den Illustrierten solche Werke gesehen. Sie waren wundervoll.« Er sah das Mädchen von der Seite an und senkte die Stimme, als wolle und müsse er ein großes Geheimnis verraten, an dem seine ganze Seele hing. »Ich habe auch schon in Stein gehauen …«
    Er wischte sich mit beiden Händen über die Augen, und etwas von der unbekannten Kraft, die in ihm wohnte und die ihn als ungewöhnlichen Menschen aus seinem Lebenskreis heraushob, durchrann ihn. Aus seinen Augen brach die Freude, und sein Körper straffte sich. Er war jetzt nicht mehr ein Bauernsohn in alten, zerschlissenen Kleidern … er war ein Teil der kraftvollen Natur, die ihn umgab, ein Sohn dieser rauhen Berge und der steinigen Felder, die seit Jahrhunderten dem Pfluge trotzten und dennoch in guten Jahren reiche Ernte gaben.
    »Seit drei Jahren studiere ich«, sagte Juan und umklammerte mit beiden Armen seine Knie. »Ich habe Schreiben und Lesen gelernt, und ich habe mir aus dem Dorf ab und zu Bücher geholt und sie gelesen! Bücher über Maler und Bildhauer, die dem Pfarrer oder dem Rechtsanwalt gehören. Dort habe ich viel gesehen, und ich habe es abgezeichnet. Erst, als ich anfing mit zehn Jahren, da gefiel mir nichts, was ich zeichnete. Aber dann, als ich die Bücher hatte, da habe ich geübt … erst nur Linien oder Kreise oder einfache Dinge wie ein Haus und einen Baum und einen Berg. Dann habe ich Tiere gezeichnet … die Kühe auf der Weide und die Hühner auf dem Hof zu Hause. Als ich zum erstenmal einen Menschen malte, habe ich gelacht … doch dann war alles schwerer, als ich dachte. Es ist schwer, einen Menschen zu malen …«
    Das Mädchen nickte. »Ich glaube es«, sagte es leise.
    Juan fuhr mit der Hand durch die Luft. Seine zarten Finger schienen aus dem Blau des Himmels etwas formen zu wollen. »Der Kopf«, sagte er leise, »der Hals, die Brust, der Leib, die Beine und die Arme … sie alle sind ein Wunder Gottes. Diese Muskeln, die Sehnen, die Form, in denen Kraft oder Verhalten liegen, die Adern, die durch die blasse Haut scheinen … es ist wundervoll, dies alles mit einem einfachen Stift auf weißes Papier zu zeichnen. Als ich achtzehn Jahre alt war, begann ich, mit einem alten Meißel und einem Hammer aus dem Granit Figuren zu schlagen. Wie oft splitterte der Stein ab, wie oft zerstörte ein einziger Schlag die ganze Form! Aber ich ließ nicht locker, ich wollte aus dem Stein die Bilder formen … Drei Jahre habe ich gearbeitet, heimlich erst, dann erzählte ich es, und man lachte mich aus. Das trieb mich weiter, das machte mich verbissen, und ich schlug in einer Nacht aus dem Stein meine erste Figur: ein kleines Kaninchen …«
    Das Mädchen war sehr erstaunt und wandte das Gesicht voll zu Juan. In ihrem Blick lag etwas wie Verwunderung über diesen Jungen, der Sehnsucht nach Madrid hatte, noch nie einen Film sah und heimlich in diesen rauhen Bergen Figuren aus den Steinen schlug.
    »Und was sagt Ihre Mutter dazu?« fragte sie, nur, um etwas zu fragen und die plötzlich zwischen ihnen liegende Stille auszufüllen. Und es war eine Frage, die tief in die Seele Juans griff und ihn zusammensinken ließ.
    »Nichts.«
    »Nichts? Und Pedro, Ihr Bruder?«
    »Er schimpft, weil ich keine Lust habe, den Stall auszumisten. Ich schaue lieber den Vögeln nach, wie sie um die Bergkuppe kreisen
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