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Viele Mütter heißen Anita

Viele Mütter heißen Anita

Titel: Viele Mütter heißen Anita
Autoren: Heinz G. Konsalik
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sattgetrunken hatte und wieder Kraft in seinem kleinen Körper floß.
    Neunzehn Jahre … wie schnell waren sie vorbeigegangen. Aus dem schwächlichen Säugling wurde ein kluger, aufgeweckter, aber oft stiller und versonnener Junge, der fleißig lernte, viel zeichnete und wenig Interesse für das Leben eines Bauern zeigte, in das er hineingeboren worden war. Er war ein ungewöhnliches Kind … in seinen Augen lag eine andere Welt als die Rauheit der Sierra Morena und die Härte der steinigen kastilischen Erde. Und so wurde er ein junger Mann, voll Lebenshunger und Sehnsucht nach der Weite der Welt, daß sie oft Angst um ihn empfand und sorgenvoll die Maßlosigkeit seiner Schwärmerei betrachtete.
    Sie wischte sich mit der Hand über die brennenden Augen und sah zu Juan hin.
    Er hatte den Kopf zur Seite gedreht, der Mund war ein wenig geöffnet. Die Lippen waren rauh und aufgesprungen … er mußte Durst haben. Da stand sie auf und holte von dem kleinen Tisch eine Schnabeltasse mit kalter Milch, setzte sie vorsichtig an seinen Mund und ließ die Milch zwischen seine Lippen tropfen. Aber er schluckte sie nicht, sie lief an den Mundwinkeln wieder heraus und den Hals hinunter.
    Mit einem Taschentuch trocknete sie ihn ab und bettete den kraftlosen Kopf in die Kissen, die sie ein wenig zurückdrückte. Dann setzte sie sich wieder und legte die Hände in den Schoß.
    Und die Stunden rannen dahin … stumm, bleiern wie die Finsternis, die draußen über dem großen Haus lag.
    Gegen drei Uhr morgens sah der wachhabende Arzt ins Zimmer und fühlte Juan den Puls. Er gab ihm wieder eine Cardiazol-Injektion und legte der alten Mutter die Hand auf die schmale Schulter.
    »Mut!« sagte er leise. »Wir haben alle Hoffnung, Señora. Auch der Professor. Er ist noch auf und will sich entscheiden, ob er operiert. Er ist die letzte Möglichkeit.«
    »Und dann wird Juan weiterleben? Wirklich, Herr Doktor?«
    Der junge Arzt wich dem flehenden Blick der Mutter aus.
    »Vielleicht, Señora«, sagte er stockend. »Vielleicht … die Möglichkeiten des Menschen sind begrenzt …«
    Er verließ das Zimmer schnell, und sie ging zurück zum Bett und nahm wieder die Hand des Kindes und streichelte sie.
    Wenn du gesund bist, dachte sie, nehme ich dich wieder mit nach Solana del Pino. Unsere Luft ist rauh, aber gesund, man wird stark in den Bergen. Und keinen lasse ich mehr zu dir, der dir sagt, du könntest ein großer Künstler werden. Niemand soll es sagen! Ich hasse sie alle, die dich mitnahmen in die Stadt … Doch jetzt bin ich hier, Juan, und ich bleibe bei dir, mein Junge, bis du gesund bist und zurück darfst in die Heimat …
    Sie schloß wieder die Augen, denn sie brannten ihr vor Übernächtigung und Weinen. Im Halbschlaf wiegte sie den Kopf hin und her, und dann schlief sie wirklich, sank mit dem Kopf nach vorn auf das Bett neben die Hand Juans, die sie umklammert hielt.
    Im Schlaf verschwamm die Zeit und weitete sich der Raum.
    Das Heute und das Gestern verschmolzen, und das Schicksal vergangener Tage wurde gegenwärtig und wuchs über sie hinaus.
    Wer bin ich? dachte sie im Traum. Wer ist Juan? Wie kommt er in die Klinik nach Madrid? Wie kam das alles?
    Und ihr Leben lief zurück bis zu jenem Tag, der begann wie alle Tage in der Sierra Morena, hoch oben auf dem Hochland von Castilla, im Herzen Spaniens.
    Jener Tag, auf den das Schicksal seine Finger legte …
    Und so begann es:

1
    Juan schlief noch. Er lag auf seinem harten Pritschenlager, die Beine etwas angewinkelt, mit einer zerschlissenen Decke bedeckt. Bei jedem tiefen Atemzug, der seine Brust sich heben und senken ließ, knirschte unter ihm leise das Stroh in dem rauhen Sack, das die einzige Weichheit seines Lagers bildete. Aber er lächelte im Schlaf wie ein Kind, das glücklich sein Spielzeug in der Hand hält und so hinüberdämmert in den Traum.
    Der Morgen kroch fahl durch die blinden Fenster. Draußen, hinter der Bohlentür, in der weiten Küche, klapperte schon die Mutter mit den breiten Futterschüsseln und heizte mit Reisig und Holzkloben den selbstgemauerten breiten Herd. Sie hüstelte dabei, denn sie war eine alte Frau und etwas schwach auf den Beinen, seitdem die Wassersucht sie vor einigen Jahren ergriffen hatte. Auch stach der Rauch, der dick und fett aus den Ritzen des Herdes quoll, in der Lunge und machte das Atmen schwer.
    Anita Torrico stellte den Kessel mit Wasser auf die Flammen und wischte sich die rauhen Hände an der Schürze ab. Dabei schaute sie aus dem
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