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Video-Kid

Video-Kid

Titel: Video-Kid
Autoren: Bruce Sterling
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Allrot ihm in die Augen und schob sich einen Fetzen rohes Fleisch zwischen die Lippen. »Küßchen, Küßchen«, sagte er. »Hier, Feinerle!«
    Die Gottesanbeterin beugte sich zierlich vor, schnappte sich das Fleisch und biß dabei auch ein Stück von Allrots Unterlippe ab. »Autsch!« rief Allrot voller Schmerz. »Pest und Hölle! Fünfzigmal ist es gutgegangen, und jetzt …«
    Wir alle lachten herzlich auf Allrots Kosten. Dann gab ich ihm ein wenig Smuff, gerade genug, um den Schmerz abzutöten, und betupfte die Wunde mit einem Schnellgerinner. Nachdem ich die Stelle an der Unterlippe auch noch mit einem Stück Hautdichter belegt hatte, sah Allrot wieder wie neu aus. Während ich ihn noch verarztete, sprang die Gottesanbeterin mit raschelnden Flügeln vom Tisch, hüpfte in meinen Sessel, kippte mit einem Bein meine Schüssel um und begann damit, in den Resten nach leckeren Brocken zu suchen.
    Rätseling erschien mit dem dritten Gang: dicke, reichhaltige Omeletts aus Glattrocheneiern mit Seetang-Salat. Das Ganze war so außerordentlich wohlschmeckend zubereitet, daß sogar Angelhecht darüber seinen Ärger zu vergessen schien.
    »Ich nehme an, du steckst bereits mitten in deinen Vorbereitungen für die Fünfhundertjahrfeier in der nächsten Woche, lieber Scheinberg«, sagte Allrot ein wenig lispelnd. In wenigen Tagen jährte sich zum fünfhundertsten Mal die Gründung der ersten Siedlung auf Träumerei. Ein Fest, das den Oberflächenbewohnern von Träumerei sehr viel bedeutete.
    »Aber natürlich«, antwortete Scheinberg. »Die Feierlichkeiten werden ganz gewiß keine geruhsame Zeit für mich. Ich habe bei so vielen Veranstaltungen zugesagt, daß ich mich vierteilen müßte, um an allen teilzunehmen. Aber alles in allem dürfte es während der Feierlichkeiten sehr lebhaft zugehen. Die Bevölkerung scheint sich übereinstimmend eine Art Karneval zu wünschen.«
    Ich hatte schon von den Gerüchten um Mummenschanz und Possenspiel gehört, aber jetzt, wo sie von Münz-Scheinberg, einem der großen Vergnügungsveranstalter, bestätigt wurden, war mit beidem wohl fest zu rechnen. »Karneval, immer Karneval«, bemerkte ich leicht irritiert. »Mir hängen diese abgestumpften Festivitäten zum Hals heraus. Warum können wir statt eines Possenspiels nicht ein Satyrspiel oder gar ein Wasserfest stattfinden lassen? Zum Donnerwetter noch mal, mir wäre alles andere recht.«
    »Ein Wasserfest mit Planschen und Naßspritzen wäre wohl kaum das Geeignete für eine solch bedeutende Veranstaltung«, lächelte Allrot. »Selbst ein Karneval wäre vor fünfhundert Jahren als etwas schrecklich Wildes und Extravagantes angesehen worden.«
    Starkbein kicherte rauh. »Moses Moses würde sich im Grab herumdrehen, wenn man seine letzte Ruhestätte nicht in Atome zerblasen hätte.«
    »Na, na, müssen meine in Ehren ergrauten Ohren eine üble Verleumdung des Gedenkens an den Gründer unserer Gesellschaft vernehmen?« fragte Scheinberg rhetorisch und drohte Starkbein zweimal kurz mit dem fetten Zeigefinger. »O weh, Starkbein, da hast du deinen simplen Patriotismus aber arg befleckt. Treibt der Kerl doch seinen Spott mit der Sittlichkeit!«
    Starkbein verdrehte zwar die Augen, doch schien er für den Augenblick Scheinbergs nicht ganz so ernst gemeinte Schelte zu akzeptieren.
    »Moses Moses würde sich nicht einfach im Grab herumdrehen«, sagte Allrot düster. »Denn er ruhte nicht in einem gewöhnlichen Grab. Man hat Moses Moses lebendig eingesargt, in einer Kryogruft. Leider wurde er sozusagen posthum ermordet, vor dreihundert Jahren während des Fuchstag-Aufruhrs. Die erklärte Absicht unseres Staatsgründers war es, zur Fünfhundertjahrfeier wieder aufgetaut und zum Leben erweckt zu werden. In politischer Hinsicht würde sein Wiedererscheinen natürlich eine Katastrophe bedeuten. Aber als Historiker würde ich mir natürlich nichts mehr wünschen, als einmal mit diesem Mann zu sprechen. Vieles an ihm ist nämlich rätselhaft geblieben.«
    »Was soll das denn noch?« platzte es gefühllos aus Starkbein heraus. »Die Vergangenheit ist tot, und Moses ist tot. Seit dem Fuchstag ist er nicht mehr, und das liegt schon dreihundert Jahre zurück!«
    »Aber ich erinnere mich an den Fuchstag«, sagte Scheinberg leise. »Damals war ich noch erstaunlich jung, kaum älter als du, Kid. An den Tod dachte ich damals noch lange nicht. So viele Jahre. Das hat ganz schön Staub aufgewirbelt, damals. Irgendwie fürchteten wir, die ganze Welt stünde kurz vor
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