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Verzaubert

Verzaubert

Titel: Verzaubert
Autoren: Laura Resnick
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Zauberwald findet. Ich hatte während der Proben genügend Zeit in diesem Ding verbracht, um Golly Gee ein wenig zu bedauern. Schließlich musste sie die nächsten Minuten eingequetscht wie eine Ölsardine unter dem doppelten Boden verbringen.
    Mein Mitgefühl hielt sich allerdings in Grenzen. Denn während der Hexenmeister mit dem schönen Prinzen kämpfte, würde sie – im Gegensatz zu mir, der mittellosen, halbnackten Zweitbesetzung im Chor – in einer Rauchwolke auftauchen und eine nasale Version des besten Liedes dieser Show trällern. Diesen Moment würde ich nutzen, um unauffällig nach links von der Bühne zu verschwinden.
    Der Hexenmeister bedeckte die Glaskiste mit einem schimmernden goldenen Tuch. Zusammen mit einer anderen Nymphe drehte ich die Kiste auf ihren Rollen dreimal um die eigene Achse, während die Musik langsam anschwoll und der Hexenmeister Zaubersprüche und Beschwörungsformeln murmelte.
    Als wir die Kiste wieder zum Stehen brachten, drang ein leises Geräusch daraus hervor. Es war ein kurzer, erstickter Schrei, nahezu übertönt von der Musik des Orchesters. Sofort gab ich mich meiner Lieblingsphantasie hin, dass Gollys für viel Geld vergrößerte Brüste nicht mehr unter den doppelten Boden der Kiste passten und sie die Show verlassen musste. Ich würde ihre Rolle übernehmen, und mein Agent brächte jeden Kritiker, Produzenten und Direktor der Ostküste dazu, sich die Aufführung anzusehen. Wenn ich endlich jemanden spielte, der Kleidung trug, würde ich vielleicht sogar meine Eltern nach New York holen, damit sie mich in
Der Hexenmeister
bewundern konnten.
    Ich wurde aus meiner angenehmen Träumerei gerissen, als der Hexenmeister das goldene Tuch wegzog. Virtue war für die Zuschauer verschwunden, und irgendjemand rollte die leere Kiste von der Bühne.
     
    Der Rest der Szene war schnell vorbei. Schon war es für Virtue an der Zeit, in einer spektakulären Rauchwolke zu erscheinen und die Ballade zu singen, die sowohl dem Prinzen als auch dem Zauberer ihr Fehlverhalten vor Augen führte und die beiden Freunde werden ließ.
    Es gab eine kleine Explosion. Rauch stieg auf. Trommelwirbel setzte ein.
    Und Golly verpasste ihren Einsatz.
    Zum ersten Mal war ich froh, nur eine Chornymphe zu sein. Der dramatischste Moment der ganzen Show war soeben gefloppt. Die Zuschauer wechselten skeptische Blicke, und Joe starrte ungläubig in den Rauch.
    Zum Glück war der Dirigent auf Zack. Er ließ das Orchester die letzten acht Takte wiederholen, bevor sich der Rauch völlig verzogen hatte. Der Einsatz hallte nach, verklang und verstummte schließlich. Noch immer keine Golly.
    Wir sahen uns fragend an. Dies war einer jener Augenblicke, die Schauspieler gern als Geschichte zum Besten geben, die aber keiner von ihnen selbst erleben will. Das hier war um einiges schlimmer, als ein Requisit fallen zu lassen oder seinen Text zu vergessen. Was sollten wir jetzt tun?
    Joe schaute sich mit glasigen Augen um. Sein Gesicht glänzte schweißüberzogen. Er drohte zu hyperventilieren. Jemand musste ihn unverzüglich von der Bühne schaffen.
     
    Plötzlich fiel mir der unterdrückte Schrei wieder ein. Ich war so damit beschäftigt gewesen, Golly Unglück zu wünschen, dass mir gar nicht in den Sinn gekommen war, dass sie möglicherweise tatsächlich in Schwierigkeiten steckte. Verletzt, eingeklemmt, bewusstlos … Sie lag nach wie vor in der Kiste – wo auch sonst – und war unter dem falschen Boden gefangen. Wir mussten sie rausholen! Danach war immer noch Zeit, zu überlegen, wie wir die Show zum Abschluss brachten.
    Aus purer Verzweiflung hüpfte ich auf und ab, zeigte in Richtung der Seitenabgänge und rief: »Seht! Dort geht sie hin! Meine Lady ist dem Zauber des Hexenmeisters entkommen! Lasst uns eilen … Ihr wisst schon … Lasst uns hören, was sie uns zu sagen hat!« Meine Stimme überschlug sich schier vor Begeisterung. Alle sahen mich an, als wäre ich übergeschnappt. Ich schleifte den Satyr hinter mir her und flüsterte: »Komm schon, freu dich! Und hilf Joe von der Bühne runter, bevor er umkippt.«
     
    Die anderen Schauspieler folgten unserem Beispiel, jubelten und winkten, während sie Joe hinter die Kulissen drängten. Währenddessen bemühte sich das Orchester, mit irgendeinem Stück das Schlamassel zu überspielen.
    Ich lief zu der Glaskiste und versuchte, sie mit bloßen Händen aufzubrechen. Alle starrten mich an. »Helft mir, sie hier rauszuholen!«, forderte ich meine Waldgesellen
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